Massenmord mit Keulen und Macheten

Vor 20 Jahren wurden in Ruanda in nur zwölf Wochen 800.000 Menschen umgebracht. Die Lehre daraus: Bei aktuellen Konflikten – und seien sie noch so weit entfernt und schwer einordenbar – dürfen wir nicht wegsehen.

Die Erinnerung an den Völkermord in Ruanda steht im Schatten des umfassenden Gedenkens an den Ersten Weltkrieg, die „Urkatastrophe“ im europäischen Gedächtnis. Der Genozid in Ruanda liegt zwar zeitlich wesentlich näher (er geschah 1994), scheint aber nicht nur geografisch viel weiter von uns entfernt.

Das Morden begann vor 20 Jahren, in der Nacht vom 6. auf den 7.April 1994. Unmittelbarer Anlass war der Abschuss eines Flugzeugs mit dem ruandischen Hutu-Präsidenten, Juvénal Habyarimana, an Bord, der den Tutsi-Rebellen angelastet wurde. Radikale Hutu nutzten dies als Startsignal für ihren lange angekündigten Vernichtungsfeldzug gegen oppositionelle, gemäßigte Hutu, vor allem aber gegen die Tutsi-Minderheit im eigenen Land.

Nachbarn töteten Nachbarn

In den folgenden drei Monaten, bis zur Beendigung des Völkermords durch die einmarschierende Ruandische Patriotische Front (RPF) im Juli 1994, wurden ungefähr 800.000 Tutsi, das sind 75Prozent der in Ruanda lebenden Tutsi, ermordet.

Dieser Völkermord ragt in mehrfacher Hinsicht aus der jüngeren Geschichte heraus. Es war der erste Genozid nach der Schoah und somit die blutige Widerlegung des seitdem geltenden Prinzips „Nie wieder“. Vor allem aber ist es die Dimension, das ungeheure Ausmaß und die Art des Tötens, die den Völkermord in Ruanda einzigartig macht. In weniger als zwölf Wochen, den viel zitierten „100 Tagen“, gab es 800.000 Tote, wobei die schlimmsten Massaker in einer noch kürzeren Zeitspanne, vom 11.April bis zum 1.Mai, stattfanden.

Die Mörder entwickelten eine mörderische Effizienz, die selbst die nationalsozialistische Judenvernichtung auf ihrem Höhepunkt im Jahr 1942 noch übertroffen hat. Die Täter waren radikale Hutu-Politiker und Ideologen, Polizei, Militär und eigens dafür ausgebildete Interahamwe-Jugendmilizen. Aber auch große Teile der Hutu-Bevölkerung, ganz normale Männer haben sich am kollektiven Morden beteiligt. Es war ein Nachbarschafts-Völkermord und es war ein Gemeinschaftswerk: Nachbarn töteten Nachbarn, Bekannte, Verwandte...

Tag für Tag, Woche für Woche rückten die „génocidaires“ am Morgen gemeinsam aus und machten in umliegenden Häusern, Sümpfen und Wäldern Jagd auf ihre Opfer. Im überwiegend ländlichen Ruanda fungierte „Töten als Arbeit“, was sich auch in der Art der verwendeten Tatwerkzeuge widerspiegelt: 37,9Prozent wurden mit Macheten umgebracht, 16,8 Prozent mit Keulen erschlagen, viele wurden schwer verletzt und verstümmelt und starben einen langsamen, qualvollen Tod.

Angesichts dieser archaisch anmutenden Gewalt tun sich Abgründe auf, sie evoziert erneut das viel strapazierte Bild vom „Herz der Finsternis“.

Kein archaischer Stammeskrieg

Beschäftigt man sich näher mit Vorgeschichte und Verlauf des Völkermords, wird aber eines klar: Es war eben kein „archaischer Stammeskrieg“, sondern ein durchaus geplanter, lange vorbereiteter, gut organisierter, mit bestialischen Methoden durchgeführter Völkermord. Dass es sich um einen Genozid handelte, ist unumstritten, denn es war eine gezielte Vernichtung einer klar definierten Gruppe, der zu „inyenzi“ (Kakerlaken) entmenschlichten Tutsi, die es ausnahmslos zu vernichten galt.

Der Massenmord ist auch nicht plötzlich von heute auf morgen ausgebrochen, sondern ihm ging eine lange Phase der politischen und wirtschaftlichen Krise, der Propaganda und Gewalt voraus. Es herrschte eine „Kultur der Straflosigkeit“, die die Hemmschwelle zum Morden schon lange vor der Eskalation gesenkt hatte. Schließlich gab es auch klare politische und ökonomische Interessen, wie etwa den Kampf um Grund und Boden in einem extrem überbevölkerten Land, und rationale Motive der Täter (Neid, Gier), die den Völkermord ermöglicht haben.

Viel ist bereits über das Versagen der internationalen Staatengemeinschaft – der UNO, der USA, Frankreichs und Belgiens – geschrieben worden. Ein Versagen, das sich (welt)politisch und ökonomisch erklären lässt, aber deshalb um nichts weniger tragisch ist. Denn vermutlich hätte sich das Ausmaß des Mordens durch ein entschiedenes Eingreifen von UN-Truppen verhindern oder zumindest einschränken lassen. Tragisch ist auch die Tatsache, dass die internationalen Medien den sich anbahnenden Völkermord als einen der üblichen blutigen Stammesfehden fehlinterpretiert haben und das Interesse der Weltöffentlichkeit erst spät, zu spät einsetzte.

Die Täter als Opfer

Erst als angesichts der sich abzeichnenden Niederlage im Juli 1994 rund eine Million Hutu – darunter auch viele Täter – ins Ausland flüchteten (vor allem nach Zaire/DR Kongo), richtete sich der Blick der internationalen Medien und Hilfsorganisationen auf Ruanda. In Unkenntnis der Lage wurden jedoch die flüchtenden Hutu als die Opfer des Völkermords wahrgenommen, wohingegen die überlebenden Tutsi schweigend am Straßenrand der Geschichte (Jean Hatzfeld) standen.

1994 blickte Europa gebannt auf den Jugoslawien-Krieg, und weltweit wurde das Ende der Apartheid in Südafrika bejubelt, womit endlich einmal ein positives Bild von Afrikas gezeigt werden konnte. Für Ruanda war damals kein Platz. Und auch heute noch scheint der Völkermord trotz des Wissens um sein ungeheuerliches Ausmaß kaum in unserem Bewusstsein verankert zu sein.

Eurozentrische Wahrnehmung

Während seit Monaten so gut wie jede Facette des Ersten Weltkrieges ausgeleuchtet wird, bleibt Ruanda – abgesehen von einigen obligatorischen Artikeln und Fernsehdokumentationen – weitgehend ausgeblendet. Damit soll keine Gedenkkonkurrenz aufgebaut und nicht zwei historische Ereignisse gegeneinander ausgespielt, sondern lediglich kritisch auf das Ungleichgewicht des Interesses und das Fortwirken eurozentristischer Wahrnehmungen hingewiesen werden.

Wenn es überhaupt so etwas wie eine Lehre aus der Geschichte gibt, so vielleicht die, dass man bei gegenwärtigen Konflikten – und seien sie noch so weit entfernt und schwer einordenbar – nicht wegsehen darf, sondern besser Interesse zeigt und sich nicht vorschnell mit allzu simplifizierenden Erklärungsmustern zufriedengibt.

Ein aktuelles Beispiel wäre die Zentralafrikanische Republik, aus der alarmierende Meldungen von gegenseitigen Massakern zwischen Muslimen und Christen kommen. Dort vollzieht sich gerade eine Eskalation der Gewalt, die sowohl in ihrer Form als auch im Ablauf in fataler Weise an die Entwicklung in den Jahren vor dem Völkermord in Ruanda erinnert. Der Verweis auf Ruanda sollte künftig mehr sein als nur ein rhetorischer Appell zur politischen Wachsamkeit.

Margit Reiter referiert am Donnerstag, 10.4., um 19Uhr über das Thema Völkermord in Ruanda in der Sigmund-Freud-Privatuniversität Wien, Schnirchgasse9a, 1030 Wien.

E-Mails an:debatte@diepresse.com

DIE AUTORIN



Margit Reiter

Dozentin für Zeitgeschichte, lehrt und forscht an der Universität Wien. Zahlreiche Publikationen zu Nationalsozialismus, Israel-Kritik und Antisemitismus, Anti-Amerikanismus und zur NS-Nachgeschichte, u.a.: „Die Generation danach. Der Nationalsozialismus im Familiengedächtnis“ (2006). [ Privat ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.04.2014)

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