Wladimir Putin, der Langstreckenläufer

Es besteht kein Zweifel, dass es der jetzige Kremlchef als seine "heiligste" Pflicht ansieht, das ehemals große Russische Reich wieder "einzusammeln". Nicht sofort, nicht auf einmal - aber als langfristiges, unverrückbares Ziel.

Wird er der Ukraine auch noch das Gas abdrehen oder wird er nicht? Droht letztlich sogar ganz Europa ein Gaslieferstopp? Solche Fragen haben zuletzt die Schlagzeilen in den Medien dominiert. Erst etwas später kam, was die USA und die Nato brennend interessiert: 40.000 russische Soldaten an der Grenze zur Ukraine; die Sorge vor einem Einmarsch Putins im Donbass, wo direkt aus Moskau geschickte oder von dort bezahlte Demonstranten Regierungsgebäude in Lugansk, Donezk und Kramatorsk besetzt halten. Folgt schon bald die russische Okkupation der Ostukraine nach dem Krim-Schema?

Zu all dem gesellt sich aber auch noch die ganz konkrete Angst der Menschen in Estland, Lettland, Litauen oder der Republik Moldau vor einer erneuten Eingliederung ihrer Länder in die Russische Föderation. Als eine Art Vorstufe gilt die Medwedjew-Doktrin von 2008: „Überall, wo Russen leben, hat Russland die Pflicht, für deren Sicherheit zu sorgen.“

Europa denkt lieber ans Gas

Wie man für Unsicherheit sorgt, um die Sicherheit wiederherstellen zu müssen, weiß man spätestens seit Hitlers Überfall auf Polen („Seit 5.45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen“). Und man weiß noch mehr. So rasch wie Polen von der damaligen Staatengemeinschaft aufgegeben wurde, so rasch hat die heutige die Krim abgehakt. „Sie ist ja nur wieder dort, wo sie immer war“, heißt es lapidar. „Dort“ waren aber auch schon die oben genannten Länder – unter anderem nebst Georgien und Weißrussland.

Dass Europa lieber ans Gas denkt als an die Ängste der ehemaligen Sowjetrepubliken, weiß der Kremlherr sehr zu schätzen. Seine Briefe an 18 Bundes- und Staatspräsidenten haben vor allem den Zweck, die wohlstands- wie friedliebenden Europäer auf das Schreckensbild einer Energiepreiserhöhung zu fixieren. Ohne natürlich hinzuzufügen, dass die Not leidende russische Wirtschaft von ihren Gasexporterlösen noch mehr abhängt als der Westen.

Doch leidet Europa nicht nur an der Verletzbarkeit seines Wohlstands, sondern vor allem an der Kurzfristigkeit seines Denkens und Planens, an seiner wachsenden Geschichtslosigkeit und seinem Mangel an mystisch-spirituellem Gedankengut. Das alles aber besitzt Russland in hohem Maße.

Anders als westliche Staatenlenker, die in Wahlperioden und noch kurzfristiger denken, planen und handeln, haben Präsident Wladimir Putin und sein Ministerpräsident Dmitrij Medwedjew eine Menge Zeit. Sie müssen in ihrem Wechselspiel von Staats- und Ministerpräsident nicht dauernd sprinten, sondern können sich auf Marathonläufe einstellen.

Das erlaubt langfristige Zielsetzungen, von denen rechtsstaatliche Demokratien nur träumen können. Eines der Ziele der beiden Russen ist dabei zweifellos die Wiederherstellung eines Großrusslands, wie es vor dem „Verrat“ Michail Gorbatschows existiert hat.

Geschichte dient Mobilisierung

Dazu mobilisiert Putin, der die russische Seele kennt, die ruhmvollen Teile der Geschichte seines Landes. In seiner mittlerweile legendären Krim-Rede im Georgijewski-Saal des Kreml beschwor er nicht nur die vielen uralten „heiligen Orte“ der berühmten Halbinsel, sondern ausdrücklich auch die historische Taufe des Großfürsten Wladimir im Jahre 988, die diesem den Beinamen „der Heilige“ eingetragen hat. Durch ihn seien die Völker Russlands, der Ukraine und der Krim „kulturell und zivilisatorisch endgültig vereint worden“, befand Putin.

Was er nicht erwähnte, was aber viele Russen wissen, ist die Heirat des Großfürsten mit Anna, der Tochter des byzantinischen Kaisers, am Tag der Taufe. Damit wurde erstmals die Verbindung Russlands mit Byzanz, dem „zweiten Rom“, hergestellt. Mehr als 500 Jahre später, als Byzanz/Konstantinopel von den Osmanen erobert wurde und somit aufhörte zu existieren, erhob Iwan III. durch seine Heirat mit Zoe-Sophia, der Nichte des letzten Kaisers von Byzanz, seinen Anspruch auf Moskau als das nunmehr „dritte, letzte und einzig legitime Rom“.

Kurz danach nennen sich die Großfürsten „Zaren“, also römisch-moskowitische „Cäsaren“ und machen den Doppeladler zum neuen Emblem der Orthodoxie. Sie ist nunmehr der Hort der Rechtgläubigkeit, das Symbol des „Heiligen Russlands“, erhaben über alle anderen, vor allem über die Sündigen und Verderbten im Westen.

Es ist kein Zufall, dass der KGB-Offizier, Wladimir Wladimirowitsch Putin, 1990, kurz nach seiner Rückkehr aus Deutschland, in seiner Geburtsstadt Leningrad in die orthodoxe Kirche eingetreten ist.

Das Bündnis Thron/Altar

Seither pflegt er eine enge Beziehung zu Wladimir Gundjajew, dem späteren Patriarchen von Moskau, Alexis I., der sechs Jahre vor Putin in Leningrad geboren wurde. Als am Weihnachtstag 2006 eine heilige Messe aus dem Kloster Neu Jerusalem in der Nähe von Moskau im Fernsehen übertragen wurde, sah die Welt einen betenden und sich bekreuzigenden Putin, der eine Kerze für alle Notleidenden dieser Erde entzündete.

Seit 2009, dem Jahr der offiziellen Bestellung Alexis I., gibt es ein neuerliches Bündnis zwischen Thron und Altar, das in Russland so alt ist wie der „metaphysische Durst seines Volkes“ (so der Dichter Viktor Jerofejew). Und den darf man auf keinen Fall unterschätzen.

Dieses Bündnis verlangt vom jeweiligen weltlichen Herrscher aber auch, für ein großes und mächtiges Russland zu sorgen und zu diesem Zweck „russische Erde zu sammeln“. Und das haben sie tatsächlich alle getan – angefangen von Iwan IV., „dem Schrecklichen“, über Zar Peter den Großen, Katharina II., die Erobererin der Krim, bis hin zu Lenin und Stalin, dem Priesterseminaristen und „Sieger“ im Zweiten Weltkrieg.

Verspielte Größe

Erst die „Weicheier“ Nikita Chruschtschow und Michail Gorbatschow hätten viel von dieser früheren russischen Größe wieder verspielt, heißt es heute in Moskau. „Die Krim wurde von Chruschtschow verschenkt“, zürnte Putin in seiner Kreml-Rede und die UdSSR sei auseinandergebrochen. Schuld daran sei zwar vor allem der Westen, der die russische Seele 1990 schwer gedemütigt habe, doch hätten auch einige eigene Leute versagt.

Es besteht kein Zweifel, dass es der absolvierte Jurist, Doktor der Wirtschaftswissenschaften, Geheimdienstoffizier, orthodoxe Christ und Marathonläufer Putin als seine „heiligste“ Pflicht ansieht, dieses ehemals große Reich wieder „einzusammeln“. Nicht sofort, nicht auf einmal und womöglich ohne viel Blutvergießen – aber als langfristiges, unverrückbares Ziel.

Angefangen hat er schon – und sich damit nicht nur größte Zustimmung in der tief gekränkten russischen Bevölkerung inner- und außerhalb der Föderation geholt, sondern erstaunlicherweise auch den Respekt vieler Bürger im Westen: „Na, wenigstens ein Politiker, der sich getraut, etwas zu entscheiden.“ Man sollte diese Stimmungslage nicht unterschätzen.

E-Mails an:debatte@diepresse.com

DER AUTOR



Bernd Schilcher
studierte Medizin und Rechtswissenschaften. Ab 1978 Ordinarius für Bürgerliches Recht an der Uni Graz. 1976 bis 1993 war er VP-Abgeordneter zum Steiermärkischen Landtag, von 1974 bis 1991 Vertreter der Steiermark im ORF-Kuratorium. 1989 bis 1996 amtsführender Präsident des Landesschulrates für die Steiermark. Seit 2003 ist er im Ruhestand. [ Fabry ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.04.2014)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.