Die vielen Leiden der Liberalen in Österreich

Der Zeitgeist, die politische Korrektheit und ihre Folgen: Wer kann es sich heute leisten, Liberalität gegen den Zeitgeist zu vertreten, ohne sich der Lächerlichkeit preiszugeben oder sich massiven Angriffen auszusetzen?

Liberalität ist kritische Offenheit gegenüber allen gesellschaftlichen Entwicklungen. Das hat nichts mit Übereinstimmung zu tun, dafür aber mit Toleranz. Ich bekenne offen, dass sich in letzter Zeit meine Intelligenz und meine Toleranz vermehrt in den Haaren liegen. Gewissen Erscheinungen gegenüber stehe ich – für mich betrüblicherweise – mit wachsender Intoleranz gegenüber.

Nicht nur kann ich nicht mehr folgen – ich will es auch nicht. Ich bin nicht bereit, Unvernunft zur Vernunft oder Unmoral zur Moral zu erklären, nur weil es dem Zeitgeist entspricht.

Ich bin über 80 Jahre alt, und in harten Nachkriegszeiten von einer alleinerziehenden Kriegswitwe gemeinsam mit zwei jüngeren Geschwistern in großbürgerlich-liberalem Sinn erzogen worden. Damals schon und durch meinen Beruf habe ich in der ganzen Welt mit vielen sozialen Milieus – oft aus gesellschaftlichen Randschichten – zu tun gehabt. Ich bin also mit Extremen vertraut.

Es wimmelt von Extremen

Ich habe mir zwar in meinem bisherigen Leben eine Reihe lieb gewordener Begriffe und Anschauungen zu eigen gemacht, bin aber auch bemüht, möglichst mit allen modernen Entwicklungen – seien sie technischer, gesellschaftlicher, politischer, seien sie philosophischer Natur – zurande zu kommen.

Dieses Bestreben wird durch Entwicklungen gehemmt, die aus meiner Sicht überzogen sind. „Hüte dich vor den Extremen“ war ein Eckstein bei meiner Erziehung. Von Extremen aber wimmelt es. Gerade die gesellschaftlichen Durchbrüche der letzten Jahrzehnte haben in vielen Fällen eine sich selbst steigernde Entwicklung genommen.

Aus der Straffreiheit für Homosexualität ist ein Forderungskatalog gewachsen, der teilweise ins Absurde abgleitet. Forderungen sind ein Teil der Menschenrechte und müssen daher zumindest zur Kenntnis genommen werden. Ungehörig ist es hingegen, ablehnende Stellungnahmen a priori als reaktionär und damit als ungehörig zu erklären.

Warum, bitte, soll es mir verwehrt sein, von „Negern“ zu sprechen – nur weil die Amerikaner ihre schwarzen Mitbürger abwertend als „nigger“ bezeichnet haben, statt es korrekterweise bei „negroes“ zu belassen? Welche Einwände kann ein gesunder Verstand gegen die Bezeichnung einer wunderbaren Süßspeise als Mohr im Hemd haben? Nie mehr wieder „Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan...“?

Wie rassistisch sind Bücher wie „Struwwelpeter“ und „Hatschi Bratschis Luftballon“, wenn man die Zeit bedenkt, in der sie geschrieben wurden? Über lange Zeit meines Lebens sagte man Zigeuner zu Zigeunern, bis das NS-Regime zu ihrer tödlichen Bedrohung wurde. Jetzt sollen wir Roma und Sinti sagen. Das ist erst einmal nicht das Gleiche, weil es darüber hinaus auch die Jenischen gibt.

Geschmackstabu-Brecher

Und es ist scheinheilig, weil die – rassistischen – Vorbehalte dieselben bleiben. Alles nur, weil das Wort infolge des Gebrauchs durch die Nazis tabuisiert worden ist? Warum bezeichnen wir dann trotz analoger Voraussetzung Juden noch immer als Juden? Anders herum: Jeder soll in seiner Sexualität glücklich werden – aber muss ich mit dem Coming-out obskurer Prominenz zu ihrer Homosexualität belästigt werden? Werden wir uns demnächst als Heterosexuelle „outen“ müssen, um ernst genommen zu werden? Ist es notwendig, in einer Gratiszeitung des Langen und Breiten die Vor- und Nachteile von existierender oder entfernter Sexualbehaarung zu diskutieren?

Muss jedes Geschmackstabu gebrochen werden, um die Existenzberechtigung des Brechenden unter Beweis zu stellen? Es sollte endlich Schluss mit Diskussionen sein, in denen sich unbekannte Prominente an bisher brachliegenden Themen abarbeiten können.

Es fehlt in diesem Land der Fluchtpunkt in der Perspektive der Moral. Voraussetzung dafür, dass nicht jeder – aber auch schon jeder– sich ungestraft veranlasst fühlt, überfallsartig die Gesellschaft mit sich selbst zu beglücken. Und es fehlt die Einsicht bei den Medien, dass nicht alles, was scheinbar neu ist, gleich als Sensation abgehandelt werden muss. Zurückhaltung lautet das Motto.

Noch einmal anders herum: Es war üblich, von deutschen, englischen, russischen, österreichischen Künstlern zu sprechen. Hier wurde „verfeinert“. Wenn die englischen, russischen, österreichischen Künstler etwa jüdischen Glaubens sind, werden sie fast automatisch als jüdische Künstler geführt. Wird demnächst jemand von Nikolaus Harnoncourt als katholischem Dirigenten berichten?

Das Eis ist sehr dünn

An einen rassistischen Kontext wagt man an dieser Stelle nicht zu denken. Bei diesem Thema ist aber auch Vorsicht angebracht, denn das Eis ist dünn: Niemand würde es heutzutage wagen, öffentlich von einem jüdischen Immobilienhändler, Bankier, Rechtsanwalt zu sprechen. „Political correctness is highly selective.“ Politische Korrektheit ist aber auch gelegentlich unmoralisch.

So etwa beim geplanten Denkmal für Deserteure. Denkmalwürdig ist etwas moralisch oder ethnisch Hervorragendes. Desertion kann das sehr wohl sein, das ist aber abhängig von ihren Motiven. In den meisten Fällen ist Desertion jedoch – aus durchaus verständlichen Gründen – die Frucht von Angst, Verdrossenheit, Feigheit, Überlebensdrang.

Die Verteidiger des Denkmals verwenden das skurrile Argument, dass jeder Deserteur die „verbrecherische Kriegsführung des Dritten Reiches“ geschädigt habe; das sei unabhängig von den Motiven dahinter zu würdigen. Auch hier wird sehr dünnes Eis betreten – die These ist moralisch unhaltbar.

Neoliberale, Neokonservative

Durch derart extreme Begründungen kann fast jedes Vergehen/Verbrechen weißgewaschen werden. Franz Jägerstätter ist durch seine Wehrdienstverweigerung im Kriegsjahr1943 aus moralischen Gründen denkmalwürdig geworden – nicht hingegen die Mehrheit der anonymen Überläufer in der Deutschen Wehrmacht.

Wer also ist heute noch liberal? Oder auch: Wer kann es sich leisten, eine Liberalität gegen den Zeitgeist zu vertreten, ohne sich der Lächerlichkeit preiszugeben oder sich massiven Angriffen auszusetzen? Ist echte Liberalität ohne Extreme wie eine jener Figuren der Ankeruhr auf dem Hohen Markt in Wien, die mit jeder verflossenen Zeiteinheit eine Spur weiterrücken, um am Ende wieder ganz in ihrem Gehäuse zu verschwinden? Ist sie anachronistisch geworden?

Echten, unaufgeregten gesellschaftlichen Liberalismus gibt es nicht mehr. Die große Zeit des politischen Liberalismus in Österreich ist vorbei. Die Wiederbelebungsversuche der 1990er-Jahre sind gescheitert. Jetzt gibt es Neoliberale. Sie sind Neukonservative – und das ist gut so. Vielleicht geben sie der Liberalität wieder jenen Stellenwert, der ihr gebührt. Denn echter Konservativismus bewahrt nicht nur, er gestaltet auch neu.

E-Mails an:debatte@diepresse.com

DER AUTOR



Prof. Stephan Friedberg

war langjähriger Geschäftsführer von Bertelsmann Music Österreich und Präsident der österreichischen Landesgruppe der International Federation of the Phonographic Industry (IFPI ), Member of the Board IFPI London. Über viele Jahre vertrat Friedberg die urheberrechtlichen Interessen der Musikindustrie in Österreich. [ Privat]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.04.2014)

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