Ein Bruderzwist in Habsburg

Die NS-Herrschaft hat das über 800-jährige Zusammenleben von Tschechen, Deutschen und Juden in den böhmischen Ländern zerstört.

Die jüngste Reise des österreichischen Regierungschefs nach Prag erinnerte beinahe an das missgünstige Verhältnis zwischen den beiden habsburgischen Brüdern Kaiser Rudolph II. und Erzherzog Matthias im Jahre 1608, das Franz Grillparzer so treffend dramatisierte. Obwohl der Antrittsbesuch Bundeskanzler Gusenbauers von österreichischen Medien mit Anti-Temel­n-Stimmungen aufgeladen worden war, „verabsäumte“ es der ebenfalls neue tschechische Regierungschef Topol¡nek, seinen mitteleuropäischen Partner über einen jüngsten Störfall im Atommeiler bei Budweis zu informieren. Dies erinnerte fast an die sowjetische Informationspolitik um Tschernobyl 1986.

V¡clav Havel, der ehemalige tschechische Dichter-Präsident, hatte schon am 15. März 1993 in einem Vortrag an der Universität Wien beklagt, dass die Bürger Österreichs und Tschechiens trotz „innerer Verwandtschaft“ in ihrem geistigen Klima, ihren Traditionen und ihrem Schicksal „sehr lange Zeit eher nur nebeneinander als wirklich miteinander gelebt haben“. Während des gesamten 20. Jahrhunderts hätten die gegenseitigen Beziehungen „manchmal mehr Verlegenheit, Bitterkeit, Verdächtigungen oder Neid als wirklich schöpferische Zusammenarbeit“ gezeigt.

Gemeinsames und Trennendes

Ein von vielen jungen Historiker/innen besuchtes österreichisch-tschechisches Historikersymposion im Oktober vergangenen Jahres in der Waldviertel-Akademie in Waidhofen an der Thaya diskutierte Gemeinsames und Trennendes im wechselseitigen Geschichtsverständnis. Während österreichische Habilitanden und Doktoranden auf die gute Entwicklung der tschechischen Nationalgesellschaft in der Habsburgermonarchie, auf die Modernität der österreichischen Verfassungsgesetze von 1867, auf die Einseitigkeiten im Friedensvertrag von Saint-Germain, auf die staatsrechtliche Zweitrangigkeit der Sudetendeutschen im tschechoslowakischen Nationalstaat und auf die vom Präsidenten Bene und seiner Koalitionsregierung 1945 angeordneten Racheakte gegen alle Deutschen hinwiesen, betonten jüngere tschechische Wissenschafter/innen die politische Zweitrangigkeit der Tschechen in Österreich-Ungarn, die mangelnde Gleichberechtigung der tschechischen mit der deutschen Sprache vor 1918, die Leistungen der tschechoslowakischen Demokratie zwischen 1918 und 1938, das freilich auch von den Westmächten bestätigte Machtdiktat Hitlers in München 1938 und die Gräueltaten des NS-Regimes im Protektorat. Immerhin ist sich die jüngere Generation bereits darüber einig, dass die hunderttausenden Gefallenen, Schwerverwundeten, Witwen und Waisen des Ersten Weltkrieges als gemeinsame Opfer zu betrachten sind und dass auch die Opfer des Zweiten Weltkrieges nicht gegeneinander aufgerechnet werden dürfen. Jedenfalls gesichert ist jedoch die Zahl von nahezu 80.000 in deutschen Konzentrationslagern ermordeten Juden aus Böhmen und Mähren.

Vertreibung und Zwangsaussiedlung

Die NS-Herrschaft hatte das über 800-jährige Zusammen- und Nebeneinanderleben von Tschechen, Deutschen und Juden in den böhmischen Ländern größtenteils zerstört, zumindest weitgehend zerrüttet. In den ersten Monaten nach dem Krieg setzten daher sofort „wilde Vertreibungen“ von hunderttausenden Deutschen ein, die erst durch das Potsdamer Abkommen der drei Siegermächte am 2. August 1945 vorläufig gestoppt wurden. Parallel zu den Vertreibungen und Zwangsaussiedlungen erließ Präsident Bene eine Reihe von „Dekreten“, die vor allem die Beschlagnahme sudetendeutschen Vermögens sowie den Entzug der tschechoslowakischen Staatsbürgerschaft bestimmten. Im ganzen Land wurden somit 1,6 Millionen Hektar landwirtschaftlicher Boden und 1,3 Millionen Hektar Wald enteignet, ebenso rund 3900 Industriebetriebe und 34.000 Gewerbebetriebe, die ein Drittel des Industriepotenzials der Republik ausmachten.

Die Vertreibung und Zwangsaussiedlung von bis zu 250.000 Sudeten- und Karpatendeutschen nach Österreich stellten sowohl für die Wiener Regierung als auch für die österreichische Bevölkerung eine unerwartet große Belastung dar, deren teilweise Integration in die österreichische Gesellschaft bis 1949 nur langsam vor sich ging. Nachdem Österreich – gemäß dem Staatsvertrag – seine Bereitschaft zu einem Interventionsverzicht für die Sudeten- und Karpatendeutschen erklärt hatte, konnte am 19. Dezember 1974 ein Vermögensvertrag zwischen Prag und Wien unterzeichnet werden, der ehemals österreichische Vermögen in der Tschechoslowakei mit einer Pauschalsumme von einer Milliarde Schilling entschädigte, die auf 47.200 Personen aufgeteilt wurden.

Präsident Klaus ist zuzustimmen, wenn er einer Reduzierung der tschechisch-österreichischen Beziehungen auf die beiden Streitthemen Temel­n und „Bene-Dekrete“ widerspricht. Immerhin hätten im Jahre 2000 7,2 Millionen Österreicher und 6,9 Millionen Tschechen das jeweils andere Land besucht – nun natürlich ohne Visum. Außerdem sei Österreich für die tschechischen Exporte der drittgrößte Absatzmarkt geworden, während Österreich im tschechischen Import den sechsten Platz einnehme. Dies beweise: „Unsere Länder brauchen einander.“ Die Bilanz der 17-jährigen Zusammenarbeit seit Dezember 1989 ist daher wesentlich positiver, als die öffentliche Meinung vermuten lässt. Nie mehr seit 1913 gab es so enge, praktisch tägliche Beziehungen der Großbanken, Industrien, Handelshäuser, Agrar- und Gewerbebetriebe, Universitäten, Akademien der Wissenschaften, Kulturinstitutionen, Kirchen und NGOs. Freilich gibt es noch beachtliche Einkommensunterschiede, die nicht binnen kurzem auszugleichen sind. Der Wunschkatalog konzentriert sich dennoch auf wichtige Agenden:
–auf den raschen Ausbau besserer Bahn- und Straßenverbindungen;
–auf eine zukunftsweisende, gemeinsame Energie- und Umweltpolitik;
–auf die Öffnung des Arbeitsmarktes und die Legalisierung aller Arbeitsverhältnisse;
–auf die rasche Erledigung der noch offenen Restitutions- und Entschädigungsfälle;
–auf die gemeinsame Sicherung des kulturellen Erbes in Mitteleuropa;
–auf die gemeinsame Gestaltung der ehemaligen Grenzräume.

Die Last der Erinnerung

Freilich, die Last der Erinnerung an die Konflikte im 20. Jahrhundert wirkt noch immer nach. Grillparzers „König Ottokars Glück und Ende“ wurde im Übrigen noch immer nicht ins Tschechische übersetzt, aber tschechische und österreichische Historiker werden sich im Oktober 2008 in Krumau treffen, um über den „Bruderzwist in Habsburg“ 1608 zu diskutieren.

Arnold Suppan ist Professor für Osteuropäische Geschichte an der Uni Wien und Obmann der Hist. Kommission der Österr. Akademie der Wissenschaften.


meinung@diepresse.com("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.03.2007)

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