Ein Blick nach Tirol

Warum haben österreichische Geschichtslehrer mit einem gesunden Empfinden für Gerechtigkeit und Moral Angst davor, ihren legitimen Protest öffentlich zu machen, wenn ein ehemaliger Nazi geehrt wird?

Heute begehen Israel und die jüdische Welt den Holocaustgedenktag, der dem Wiesenthal Center in Jerusalem auch als Anlass zur Veröffentlichung des jährlichen Berichts zur Strafverfolgung von NS-Verbrechern weltweit dient. Der Bericht enthält alle Verurteilungen, Anklagen, Auslieferungsersuchen und Zahlenangaben zu den neu aufgenommenen Ermittlungsverfahren im Untersuchungszeitraum sowie die Zahl der laufenden Verfahren. Und das in mehr als drei Dutzend Ländern weltweit. Wir berichten auch über die Entwicklung in den einzelnen Ländern, die dabei Noten hinsichtlich ihres Erfolgs oder Misserfolgs erhalten.

Wieder einmal, wie auch in den vergangenen Jahren, hat Österreich eine schlechte Note erhalten. Der Grund dafür ist simpel und liegt klar auf der Hand. Keine NS-Verbrecher wurden vor Gericht gestellt, keiner wurde angeklagt. Der kroatische Polizeichef Milivoj Aner wurde immer noch nicht ausgeliefert, um in Kroatien vor Gericht gestellt zu werden. Die Aufseherin des KZ Majdanek, Erna Wallisch, wird nicht angeklagt. Es wurde nicht ein einziger Erfolg erzielt. Aber die Antwort ist auch einfach. Um zu verstehen, warum es Österreich in den vergangenen 30 Jahren nicht geschafft hat, einen einzigen Holocaust-Täter zu verurteilen, schlage ich vor, einen genauen Blick auf den Fall Obenfeldner in Tirol zu werfen, der uns in den vergangenen Wochen beschäftigt hat.

Geburtstagsfeier für SS-Mann

Mehr als ein Monat ist vergangen, seit das Simon Wiesenthal Center den Tiroler Landeshauptmann Herwig Van Staa, die Innsbrucker Bürgermeisterin Hilde Zoch und führende SPÖ-Politiker wegen ihrer Teilnahme an einer Geburtstagsfeier zu Ehren des früheren Gestapo-Beamten und SS-Mannes Ferdinand Obenfeldner zum Rücktritt aufgefordert hat. Jetzt ist es an der Zeit, den Kern der Sache und ihre Implikationen für die heutige österreichische Gesellschaft genauer unter die Lupe zu nehmen.

Ich denke es ist wichtig, damit zu beginnen, wie das Wiesenthal Center auf das Ereignis aufmerksam geworden ist. Normalerweise beachten wir die Tiroler Landespolitik nicht so genau, aber drei österreichische Geschichtslehrer aus der Region haben uns alarmiert und berichtet, dass prominente Führungspersönlichkeiten und politische Funktionsträger an einer Feier zu Ehren eines Mannes teilgenommen haben, der als Angehöriger der örtlichen Gestapo aktiv an der nationalsozialistischen Judenverfolgung und Repression im Rahmen der Pogromnacht in Innsbruck teilgenommen hatte.

Hinsichtlich der Personen, die uns auf den Vorfall aufmerksam gemacht haben, gibt es zwei Punkte, die von besonderer Bedeutung sind: Erstens haben sie verlangt anonym zu bleiben. Ich zitiere aus ihrem Brief: „Natürlich sind wir in unserem Land in einer gefährlichen Situation (Tirol – Österreich), so dass wir Ihnen vertrauen und sicher sind, dass Sie unsere Identität geheim halten werden.“ Zweitens haben alle drei Zeit geopfert und Anstrengungen unternommen, die Geschichte des Holocaust zu studieren.

Ihr Engagement für die Untersuchung des Holocaust hat nicht nur ihr Wissen und ihr Verständnis für jene Ereignisse erweitert, sondern es hat sie auch dazu inspiriert, etwas zu unternehmen wegen eines Ereignisses, das sie als moralisch verwerflich erachten. Gleichzeitig jedoch fühlen sie sich unwohl, wenn sie das Unrecht selbst öffentlich machen, und genau deswegen ist die Angelegenheit so bedeutsam. Warum haben österreichische Geschichtslehrer mit einem gesunden Empfinden für Gerechtigkeit und Moral Angst davor, ihren legitimen Protest öffentlich zu machen, wenn ein ehemaliger Nazi geehrt wird? Ich glaube, ihre Angst vor einer öffentlichen Aufdeckung der aktuellen österreichischen Praxis, die Nazivergangenheit einer prominenten politischen Figur zu ignorieren, spiegelt eine große Störung in der heutigen österreichischen Gesellschaft wider, und dies insbesondere in Tirol.

Unter diesen Umständen war es für eine nach Simon Wiesenthal benannte Organisation normal, gegen die Teilnahme von politischen Führungspersönlichkeiten an einem Festessen für einen früheren Gestapobeamten zu protestieren und sogar ihren sofortigen Rücktritt zu verlangen. Hätte ich erwartet, dass Landeshauptmann Van Staa oder Bürgermeisterin Zoch zurücktreten würden? Ehrlich gesagt, vor dem Hintergrund des aktuellen politischen Klimas in Österreich hinsichtlich ehemaliger Nationalsozialisten, war ich nicht sonderlich überrascht, dass sie ihren Rücktritt versäumten. Was ich aber als besonders störend empfand, war ihr totales Versagen hinsichtlich einer ehrlichen Aufarbeitung von Obenfeldners NS-Vergangenheit. So hat ihn zum Beispiel Ernst Pechlaner, Chef der Tiroler Sozialdemokraten, weiterhin verteidigt, und auf der Website der Partei wurde behauptet, Obenfeldner habe von 1939-1945 „immer auf Seiten der Demokratie“ gestanden, als ob das Dritte Reich eine Bastion menschlicher Freiheit gewesen sei.

Noch störender war die Reaktion des Tiroler Landeshauptmannes Van Staa, der, anstatt sich mit Obenfeldners Dienst in der Gestapo und in der SS zu beschäftigen, eine verletzende persönliche Attacke gegen seinen politischen Gegner, den Chef der österreichischen Grünen, Alexander van der Bellen, startete. Dabei warf er Van der Bellen vor, sein Vater sei ein hochrangiger Nazi gewesen, was natürlich absolut nichts mit der Auseinandersetzung um Obenfeldner zu tun hat. Noch schlimmer, er behauptete, im Gegensatz zu allen vorliegenden Dokumenten, dass der frühere Innsbrucker Vizebürgermeister (Obenfeldner) „kein Gestapo-Mann“ gewesen sei. Auch habe Obenfeldner niemals seine NS-Vergangenheit geleugnet. Er wiederholte diese Behauptungen in einem Brief an mein Büro.

Verachtenswerte Vertuschung

Wenn Van Staa nach unserem Protest und der Rücktrittsforderung zugegeben hätte, dass die Ehrung für Obenfeldner ein Fehler war, Obenfeldners NS-Vergangenheit verurteilt und sich von dem ehemaligen Gestapobeamten distanziert hätte, dann, da bin ich mir sicher, dass eine solche Reaktion die aktuelle Auseinandersetzung auf eine vernünftige Weise beendet und sich positiv hinsichtlich einer größeren Sensibilität Österreichs für die überaus wichtige Thematik von NS-Verbrechen auf lokaler Ebene ausgewirkt hätte. Stattdessen hat er sich halsstarrig dafür entschieden, mit der verachtenswerten Vertuschung von Obenfeldners NS-Vergangenheit weiterzumachen. Daher stellen sich vier wichtige Fragen:
•Warum ignoriert Van Staa die unumstößlichen historischen Fakten?
•Warum hat er nicht zugegeben, dass die Teilnahme an der Geburtstagsfeier für Obenfeldner ein Fehler war?
•Warum verteidigt er Obenfeldner, obwohl es keinen Zweifel daran gibt, dass er sowohl der Gestapo als auch der SS angehörte?
•Ist das der Preis, den ein Politiker in Österreich heute bezahlen muss, wenn er erfolgreich sein will?

Alarmglocken schrillen

Die Antworten auf diese Fragen, obwohl sie natürlich in erster Linie in Tirol von Interesse sind, haben tatsächlich eine weitaus größere Bedeutung und sollten die Alarmglocken nicht nur in Österreich, sondern auch anderswo schrillen lassen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.04.2007)

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