Sozialstaat vom Wickeltisch

Zuwanderung, Pflegekrise und Bildungsreform hängen auf das Engste miteinander zusammen. Nur eine integrierte Gesamtlösung bringt uns weiter.

Karl Ettinger hat sich kürzlich in seinem Leitartikel in dieser Zeitung leider geirrt: Das Regierungsprogramm besteht keineswegs im „Fortwurschteln“. Denn zwischen der Regierungsarbeit und dem „Muddling-Through“ besteht ein Unterschied: Bei Letzterem stimmen sich die beteiligten Akteure wenigstens noch wechselseitig untereinander ab. Gerade die drei medialen Dauerbrenner Zuwanderung, Pflegekrise und Bildungsreform zeigen aber besonders gut, dass Abstimmung in keinster Weise stattfindet, und verdeutlichen doch gleichzeitig besonders deutlich die Notwendigkeit eines zeitgemäßen, ressortübergreifenden staatspolitischen Gesamtkonzepts, das weit über eine Legislaturperiode hinausreicht.

Die drei Themen sind auf das Engste miteinander verknüpft, und die Klammer, die sie zusammenhält, heißt demografischer Wandel. Erstens: Kinderarme und alternde Gesellschaften wie die unsere sind auf Zuwanderung angewiesen. Ohne Zuwanderung lassen sich weder unser Wohlstand aufrechterhalten noch die Finanzierbarkeit der sozialen Sicherungssysteme und damit der wachsende Bedarf an Altenpflege sicherstellen. Vorschläge für die rasche Entwicklung eines zukunftsfähigen Migrations- und Integrationsmodells liegen allerdings vor, abgestimmt von Sozialpartnern und Organisationen der Zivilgesellschaft.

Demografische Lücke

Zweitens: Auch Zuwanderung kann die durch die demografische Alterung entstehende Lücke bei den Erwerbstätigen nicht vollständig schließen. Das macht nichts, denn eine Volkswirtschaft kann trotz weniger Beschäftigter immer reicher werden und damit die Finanzierung der sozialen Sicherung weiterhin garantieren. Es kommt nur darauf an, wie produktiv diese wenigen Beschäftigten – egal, ob einheimisch oder zugewandert – sind. Das aktuelle Wifo-Weißbuch nennt die nötige Art des Produktivitätswachstums sogar beim Namen: Ab 2020 stammt der Produktivitätsfortschritt nur mehr aus Technik und Innovation.

Daraus folgt drittens die Notwendigkeit, das Bildungssystem zu optimieren. Mit der Unterschiedlichkeit von Schülern muss konstruktiver umgegangen werden (wiederum mit einheimischen ebenso wie mit zugewanderten), weil sonst Potenzial für den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritt vergeudet wird.

Strukturdebatte unausweichlich

Um eine Strukturdebatte kommt man dabei nicht herum. Noch immer können am Ende der Pflichtschulzeit 20 Prozent des Jahrganges nicht ordentlich lesen und rechnen; bringt es nur jeder fünfte Jugendliche zu einem Universitäts- oder Fachhochschul-Abschluss (in Finnland fast jeder zweite, der OECD-Durchschnitt liegt bei knapp über einem Drittel). Darin liegt weiterer Sprengstoff: Nach wie vor entscheidet in Österreich die Herkunft über Schullaufbahn und Bildungserfolg. Mehr noch: Die Lebenschancen von Menschen sind hierzulande noch immer in enormer Weise durch das bestimmt, was sie als Kinder erleben, noch bevor sie überhaupt mit dem Schulsystem in Berührung kommen.

Mit anderen Worten: Der Sozialstaat von morgen entsteht auf den Wickeltischen von heute. Trotz all dieser offensichtlichen Zusammenhänge: Mit Sachausführungen werden wir in der politischen Debatte nicht gelangweilt. John Adams hat wohl Recht: „Während alle anderen Wissenschaften vorangeschritten sind, tritt die Regierungskunst auf der Stelle; sie wird heute kaum besser geübt als vor drei- oder viertausend Jahren.“ Fortwurschteln wäre da schon ein Fortschritt.

Fredy Mayer ist Präsident des Österreichischen Roten Kreuzes.


meinung@diepresse.com("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.11.2007)

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