Kosovo: EU-Perspektive statt Protektorat

Eine internationale Anerkennung des Kosovo ist nichts anderes als die Anerkennung der Realitäten vor Ort. Damit die historische EU-Mission ein Erfolg wird, braucht es allerdings mehr als Polizisten und Richter.

Die Stimmung ist angespannt. Doch diesmal in Vorfreude auf ein Ereignis, das hierzulande seit Jahrzehnten herbeigesehnt wird: eine internationale Anerkennung der Unabhängigkeit des Kosovo. In wenigen Tagen soll es so weit seit. Während auf höchster Ebene noch an der Formulierung der Unabhängigkeitserklärung gefeilt wird, werden schon längst Konzerte geplant, und die Polizei ist in höchster Bereitschaft für den großen Tag. Sonntag, Montag, niemand weiß es genau, aber dass es jetzt nur noch eine Frage von Tagen ist, hebt die Stimmung. In den Cafés in Pristina wird von nichts anderem mehr gesprochen als von der „CDI“ – der koordinierten Unabhängigkeitserklärung (auf Englisch „coordinated declaration of independence“).

Die Erinnerung an den 24. März 1999, als die ersten Bomben in Pristina fielen, ist frisch, als wäre es gestern gewesen. Angesichts der menschlichen Tragödie und Vertreibungen der albanischen Zivilbevölkerung im Kosovo hatte sich die internationale Staatengemeinschaft nach langem Ringen endlich entschlossen, dem Wüten der jugoslawischen Armee und der serbischen Paramilitärs ein Ende zu setzen. Als die ersten Nato-Flugzeuge über Pristina erschienen, wurde still gefeiert. Innerhalb weniger Tage jedoch wurde das Ausmaß von Milosevics Plan, den Kosovo endgültig von Albanern ethnisch zu säubern, klar. Wir erinnern uns an die Bilder der vertriebenen Kinder, Mütter und alten Menschen, die oft zu Fuß über die Berge nach Mazedonien und Albanien vor serbischen Einheiten geflohen sind. Fast eine Million Menschen waren während des 78 Tage dauernden Nato-Bombardements auf der Flucht. Mit Unterzeichnung des Kumanovo-Abkommens am 9. Juni 1999, wurde der Krieg offiziell beendet. Die mehr als 50.000 Soldaten und serbischen Paramilitärs mussten sich aus dem Kosovo zurückziehen und mit ihnen der gesamte serbische Verwaltungsapparat. Ein neuer Abschnitt in der Geschichte des Kosovo und der Vereinten Nationen hat hiermit begonnen.

Größte Friedensmission der UNO

Die UNO entsandte die größte Friedensmission in ihrer Geschichte. Ein Aufgebot von Verwaltungsexperten, Juristen und Polizisten aus aller Welt strömte in den Kosovo. In ihrem Windschatten kamen hunderte von internationalen Entwicklungsorganisationen und Helfern ins Land. UNMIK, die UN-Mission im Kosovo, war geboren. Die ersten demokratischen Wahlen im Oktober 2000 waren der Auftakt für den Aufbau einer komplett neuen kosovarischen Verwaltung. Innerhalb weniger Jahre entstand aus dem Nichts ein neues Rechts- und Staatssystem. Eine Entscheidung über den Kosovo-Status jedoch wurde auf unabsehbare Zeit vertagt. Auf dem Papier weiterhin Teil Serbiens war Kosovo de facto ab Juni 1999 unabhängig. Nach fast neun Jahren internationaler Verwaltung ist der Kosovo heute fast vollständig selbstregiert.

Die Frage drängt sich auf, was wird sich durch eine international anerkannte Unabhängigkeit verändern? Auf den ersten Blick wird sich das Leben in Pristina, in den Dörfern und auch in Mitrovica, der einzig ethnisch geteilten Stadt, kaum verbessern. Die Stromversorgung, die auch nach 700 Millionen Euro Investitionen weiterhin nicht gesichert ist, wird auch in Zukunft nicht nur das Alltagsleben, sondern ganze Industriebetriebe lahmlegen. Den 45 Prozent der Bevölkerung, die in Armut leben und mit weniger als 1,40 Euro pro Tag auskommen müssen, wird auch die Unabhängigkeit die Sorgen nicht nehmen. Die Realität, die sich hinter den Wirtschaftsdaten verbirgt, ist dramatisch. Mit einer Beschäftigungsrate von 54 Prozent ist fast jeder zweite Kosovare arbeitslos. Weniger als zehn Prozent der Frauen haben eine bezahlte Beschäftigung, und die 30.000 Jugendlichen, die jedes Jahr auf den Arbeitsmarkt drängen, haben kaum Hoffnung, einen Job zu finden. Doch gerade deshalb ist eine Lösung der Statusfrage von absoluter Notwendigkeit.

Zeit, Klarheit zu schaffen

Rechtssicherheit, Vorhersehbarkeit und demokratische Verantwortlichkeit sind die Grundvoraussetzung für gutes Regieren und Wirtschaftswachstum. Eine „Übergangsregierung“, die neun Jahre lang währt, noch dazu geführt von internationalen Bürokraten, die sich in keiner Weise demokratisch verantworten müssen, ist keine langfristige Lösung. Auch hat die UN-Verwaltung in den Augen der Bevölkerung ihre Legitimation längst verloren. Zu viele hochrangige UN-Bürokraten waren in Korruptionsskandale verwickelt. Auch Martti Ahtisaari hat in seinem Abschlussbericht an den UN-Sicherheitsrat eine klare Empfehlung abgegeben: Der Status quo kann nicht andauern, es ist an der Zeit, Klarheit zu schaffen. Die geplante internationale Anerkennung eines unabhängigen Kosovo ist daher nichts anderes als ein Anerkennen der Realität vor Ort. Es ist jedoch ein unumgänglicher erster Schritt, um sich dann auf die wirklichen Probleme des Landes, vor allem auf die Wirtschaftsentwicklung, zu konzentrieren.

Die Entscheidung der EU, die Verantwortung im Kosovo zu übernehmen, ist von großer historischer Bedeutung. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte übernimmt die EU direkt die Exekutivmacht in einem Land. Ursprünglich als Absicherung für den Schutz der serbischen Minderheit erdacht, stattet der Vorschlag, der von UN-Vermittler Ahtisaari ausgehandelt wurde, die EU-Nachfolgemission mit weitreichender Macht aus. Der zukünftige EU-Sondergesandte und der Chef der EULEX-Mission, einer 1800 Mann starken Polizei und Justizmission, die nun in den Kosovo entsandt wird, haben das Recht, demokratisch gewählte Politiker zu entlassen und notfalls Gesetze per Dekret zu erlassen. Die Eingriffsmöglichkeiten reichen weit über den Schutz der Minderheiten hinaus, und das, obwohl südlich der Ibar der Anteil der serbischen Minderheit unter drei Prozent der Bevölkerung liegt. Im Falle des Amtsmissbrauchs oder der Verletzung von Menschenrechten gibt es derzeit keinen Rechtsmechanismus, die EU-Mission zur Verantwortung zu ziehen. Auf dem Papier ist die EU-Mission genauso mächtig wie einst UNMIK. Als Resultat politischer Kompromisse in Brüssel, Washington und New York hat auch sie kein demokratisches Mandat der Bevölkerung.

Als erstes außenpolitisches Großprojekt ist ein Erfolg im Kosovo für die EU ein absolutes Muss. Erfolg misst sich in einer effektiven Bekämpfung der Armut, besseren Ausbildungschancen und Wirtschaftswachstum. Doch dafür braucht es mehr als 1800 Polizisten und Richter. Es bedarf einer konkreten Vision, den Kosovo nicht auf Dauer als EU-Protektorat zu führen, sondern ihn auf eine EU-Mitgliedschaft vorzubereiten. Das Jahresbudget von EULEX liegt bei über 190 Millionen Euro, im Vergleich zu 68 Millionen, die als EU-Entwicklungshilfe vorgesehen sind. Im Interesse der EU-Mitgliedstaaten muss der Schwerpunkt auf wirtschaftlicher Entwicklung liegen und mehr Geld in Ausbildungspolitik und ländliche Entwicklung fließen. Visafreiheit und eine offene Migrationspolitik sind der Schlüssel, um Kosovo aus seiner Isolation und Wirtschaftskrise zu retten. Die EU-Erweiterung ist die große Erfolgsgeschichte der letzten Jahre, und sie muss nun im Kosovo und im gesamten Westbalkan wiederholt werden.

Europa schreibt Geschichte

Mit der Anerkennung eines unabhängigen Kosovo und der Entsendung einer EU-Mission schreibt Europa Geschichte. Damit aber gesichert ist, dass es eine Erfolgsgeschichte wird, bedarf es einer konkreten EU-Erweiterungsperspektive und mehr als eines EU-Protektorats.

Verena Knaus leitet als Chef-Analystin das Büro der „European Stability Initiative“ (ESI) in Pristina. Außerdem ist sie Co-Autorin des ersten englischsprachigen Kosovo-Reiseführers (2007 bei Bradt).


meinung@diepresse.com("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.02.2008)

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