Schreibt jetzt Coca-Cola die Gesetze Brasiliens?

Die Fußball-WM zeigt, welchen Bedrohungen frisch gebackene Zivilgesellschaften durch globale Konzerne ausgesetzt sind.

Vergangenes Jahr wurden die brasilianischen Behörden von einer Protestwelle überrascht, die während des Fußball-Konföderationen-Pokals plötzlich über das Land schwappte. Der Pokal war eine Art Warmlaufen für das sportliche Hauptereignis dieses Jahres, die Fußballweltmeisterschaft, die ab Juni in zwölf Städten Brasiliens ausgetragen wird.

Auf die Demonstranten, die sich darüber beschwerten, dass die elf Milliarden US-Dollar, die für neue Stadien und andere Infrastrukturprojekte im Zusammenhang mit der Weltmeisterschaft ausgegeben werden, viel nützlicher in die Verbesserung der schwachen öffentlichen Dienstleistungen Brasiliens investiert werden sollten, reagierten die offiziellen Stellen mit Knüppeln und Tränengas. Dennoch wurden die Proteste das ganze Jahr über fortgesetzt.

Es überrascht nicht, dass der internationale Fußballverband Fifa und die Firmensponsoren der Weltmeisterschaft besorgt sind – so besorgt sogar, dass sie und brasilianische Regierungsbeamte genau planen, was im Fall von Protesten während des einmonatigen Turniers unternommen werden sollte.

Schlimmer noch: Wahrscheinlich wird die Versammlungsfreiheit durch eine Flut von vorgeschlagenen Sicherheitsgesetzen eingeschränkt werden.

Militär verstärkt die Polizei

Das Problem mit dieser Gegenreaktion ist, dass die Weltmeisterschaft ja nur einen Brennpunkt für eine diffuse Ansammlung von allgemeinen Klagen darstellt: angefangen beim mangelhaften Bildungssystem über die Polizeikorruption bis zum Machtmissbrauch.

Im vergangenen Juni gingen an verschiedenen Orten des Landes eine Million Menschen auf die Straßen. In Brasilia marschierten 45.000 Demonstranten in den Regierungsbezirk der Hauptstadt, um dort schweigend zu verharren.

Die jüngsten Demonstrationen folgen der durch den Staat erzwungenen Umsiedlung von Brasilianern mit niedrigem Einkommen aus den Favelas von Rio de Janeiro in weit entfernte Neubauten. So wird versucht zu verhindern, dass die WM von Szenen der Armut und Unruhen beeinträchtigt wird. Zuletzt kam es zu Protesten in Rios Stadtteil Copacabana, nachdem ein Tänzer ums Leben gekommen war. Einheimische meinen, er sei von der Polizei erschossen worden.

Die Polizei erhält jetzt Verstärkung durch das Militär, um die Ordnung aufrechtzuerhalten. Der Einsatz von Soldaten in der Zivilpolizei ist natürlich ein Markenzeichen von autoritären Regimen, aber nicht einer Demokratie.

In den vorgeschlagenen Sicherheitsgesetzen kommt auch das Schreckgespenst „Terrorismus“ vor – obwohl es den in Brasilien fast nicht gibt – um abweichende Meinungen zu unterdrücken (freilich greifen Polizeistaaten immer gern auf das Argument von der Terrorismusgefahr zurück). Ein im Februar eingebrachter Gesetzentwurf würde den Protest gegen Sportveranstaltungen völlig verbieten. Es herrscht eine Atmosphäre, in der nicht brutale Anarchisten die Zivilgesellschaft in Geiselhaft nehmen, sondern die Regierung zu diesem Zweck eingeschritten ist.

Ich war vor einigen Wochen in Brasilien, als das ganze Land mit kulturellen Veranstaltungen und öffentlichen Aktivitäten an den 50. Jahrestag des Militärputschs Ende März 1964 erinnerte. Der Putsch war auch das Thema der regelmäßig stattfindenden Buchmesse, die vom brasilianischen Kulturministerium gesponsert wird.

Die Ausstellungsstücke lenkten die Aufmerksamkeit darauf, wie das Leben unter der Militärherrschaft war und sie zeigten, wie zentral das Lesen und Schreiben für eine freie Zivilgesellschaft ist. Es war bewegend, diese Hommage an die Freiheit mitzuerleben und daran erinnert zu werden, wie Gewaltherrschaft sich anfühlt.

Humorlose Generäle

Unter den Exponaten auf der Veranstaltung waren auch Karikaturen, die während der Diktatur in „Paquim“ veröffentlicht wurden, einer alternativen Zeitschrift, die der wöchentlich erscheinenden britischen Satirezeitschrift „Private Eye“ ähnelte. Wie es bei Satiren und Allegorien häufig der Fall ist, konnten die Karikaturisten von „Paquim“ recht radikale Kritik am Militärregime – seiner Brutalität, den willkürlichen Verhaftungen und der Zensur – in ihre Zeichnungen einschmuggeln, direkt vor der Nase der humorlosen Generäle.

Doch am Ende kapierten es die Generäle. Die Karikaturisten von „Paquim“, einer der letzten relativ freien Pressestimmen in Brasilien, wurden verhaftet und in den Büros der Zeitschrift wurde eine scharfe Bombe gefunden. Laut Ricky Goodwin, einem früheren Mitarbeiter von „Paquim“ und Kurator der erwähnten Ausstellung, wurden die Büros der Zeitschrift einmal, als die wichtigsten Karikaturisten und Autoren gerade im Gefängnis saßen, von einer Menge aus einfachen Brasilianern umstellt. Sie bestanden darauf, dass die Zeitschrift weiter erscheint. Einige Journalisten erklärten sich bereit, die Zeitschrift unter Inkaufnahme eines hohen Risikos weiter herauszubringen.

Ungefestigte Demokratie

Die Fifa und die Reaktion der brasilianischen Regierung auf die jüngsten Proteste setzen aufs Spiel, was eines der „Paquim“-Exponate zelebriert: die Wiedergeburt der Freiheit und Demokratie. Das Problem für die Regierung von Präsidentin Dilma Rousseff, die selbst unter dem Militärregime inhaftiert und gefoltert wurde, besteht darin, dass die Brasilianer genau wissen, was auf dem Spiel steht.

Wenn Experten sich zu Schwellenländern wie Brasilien und Indien äußern, weisen sie in der Regel auf den Aufstieg der Mittelschicht, ihre verbesserte Bildung und den Grad ihrer Vernetzung hin. Doch selten sind sie sich der Struktur der Demokratie und Zivilgesellschaft in diesen Ländern bewusst, der relativen Neuheit von mühsam erkämpften Freiheiten und der genauen Kenntnis dessen, was Gewaltherrschaft für die individuelle Freiheit bedeutet – unabhängig davon, ob es sich um eine selbst geschaffene Diktatur oder eine Kolonialverwaltung handelt.

Noch weniger nehmen sie zur Kenntnis, welche Rolle die Förderung der Selbstbestimmung von Frauen und des Feminismus in der Entwicklung gespielt haben.

Gefährlicher Präzedenzfall

Die Rolle der Fifa, vor allem ihr Druck auf die brasilianische Regierung, antidemokratische Gesetze zu erlassen, stellt einen gefährlichen Präzedenzfall dar. Dieser grenzübergreifende Einsatz für die WM-Sponsoren unterstreicht auch, welcher Bedrohung frisch gebackene Zivilgesellschaften durch globale Konzerne ausgesetzt sind, von denen viele zunehmend jene gesetzlichen Bestimmungen aushöhlen, die ihnen von starken Demokratien auferlegt wurden.

Wer soll die Gesetze in Brasilien erlassen? Das brasilianische Volk oder Coca-Cola? Wenn Coca-Cola mit Unterstützung des Militärs in einer angeblich freien Gesellschaft nationale Richtlinien vorgibt, haben wir ein neues und finsteres Kapitel im Kampf um Freiheit aufgeschlagen.

Aus dem Englischen von Anke Püttmann

Copyright: Project Syndicate, 2014.

E-Mails an:debatte@diepresse.com

DIE AUTORIN




Naomi Wolf
(* 1962 in San Francisco) studierte englische Literatur an der Yale University und war Rhodes-Stipendiatin an der Oxford University. Sie ist Schriftstellerin, politische Aktivistin und gilt als führende Vertreterin der sogenannten „dritten Welle des Feminismus“. Auf Deutsch ist zuletzt von ihr erschienen: „Vagina. Eine Geschichte der Weiblichkeit“ (Rowohlt). [ Project Syndicate]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.05.2014)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.