Reformresistente Regierung: „Eh alles wurst“

Eine ernsthafte Steuerreform in Österreich muss eine radikale Gesamtreform des Systems von Abgaben und Sozialversicherung umfassen. Nur dann verdient sie den Namen „Reform“. Alles Bisherige war Augenauswischerei.

Kurz vor der EU-Wahl sind die Gewerkschaften aufgewacht und versuchen anscheinend, den schlappen SPÖ-Slogan „Sozial statt egal“ mit einem Hauch Leben zu erfüllen. Ob das ernst gemeint ist oder nur Verzweiflung über einen Kandidaten, den man der Kernwählerschaft kaum als Träger sozialdemokratischer Ideale (über deren Wesen der blasshellrosa getupfte Kanzler wohl immer noch grübelt) verkaufen kann, wird sich weisen.

Alle Studien zeigen, dass das geltende Recht – Steuern und Sozialversicherung (SV) – enorme Ungleichgewichte schafft, anstatt auszugleichen oder gar die Lebenschancen der unteren Einkommensschichten merkbar zu verbessern. Inzwischen geht es sogar Teilen der Mittelklasse an den Kragen.

Das Kreuz mit der Gleichheit

Linke Politik definiert sich über ihre Stellung zu jener Gleichheit, die über die formal-rechtliche hinausgeht, denn diese allein sichert nicht gleiche Möglichkeiten zu Bildung und Aufstieg. Ebenso ist Chancengleichheit keine einmalige Maßnahme, sondern eine dauernde, lebensbegleitende Aufgabe.

Trotzdem müsste eine moderne Linke einsehen, dass ein gewisses Maß an Ungleichheit unvermeidlich und akzeptabel ist, die Gesellschaft voranbringen kann. Dagegen sollten die Konservativen zur Erkenntnis fähig sein, dass eine zu große Kluft in der Einkommens- und Vermögensverteilung kontraproduktiv ist, zu einer Verringerung der Lebenschancen breiter Bevölkerungsschichten führt und verhindert, vorhandene Potenziale auszuschöpfen.

Denn – man kann es allerorten beobachten – die Tatsache, einer Geldelite anzugehören, bedeutet keineswegs, zu besonderen Leistungen imstande zu sein oder außergewöhnliche Fähigkeiten zu besitzen. Diese Zugehörigkeit beweist nur, dass geerbtes Vermögen durch nichts zu ersetzen ist.

Mit der Gleichheit ist es aber recht ein Kreuz: Ein zu hohes Maß derselben ist ebenso demotivierend wie ein zu hohes Maß an Ungleichheit. Beides führt zu fast unüberwindbaren Hürden. Das ist ähnlich wie mit dem Konkurrenzkampf: Wer sich in Fragen Konkurrenz auf sozialdarwinistische Argumente einlässt, sollte sich klarmachen, dass die Evolution auf einer gesunden Balance von Konkurrenz und Kooperation beruht.

Die nunmehrige Forderung nach einer Steuerreform greift bei Beachtung der obigen Ausführungen zu kurz. Es ist primär nicht die Steuer, die Probleme bereitet, sondern die Sozialversicherung. Bei Arbeitnehmern übersteigt die Lohnsteuer die SV-Beiträge erst bei einem Bruttogehalt von rund 3000 Euro. Bei einem Monatsbezug von 1500 Euro ist die SV dreimal höher als die Lohnsteuer.

Skandalös, unsinnig, absurd

Bei Selbstständigen ist es noch krasser: Durch den Mindestbeitrag in der gewerblichen SV entsteht im Extremfall ein Abzug von rund 50Prozent (bei null Einkommensteuer). Das ist schlichtweg skandalös. Kaum verdienen die Leute etwas mehr (von viel kann noch immer keine Rede sein), werden sie mit 36,5 Prozent Einstiegssteuersatz konfrontiert. Das führt endgültig zu dem, was „Die Presse“ eine Flat Tax von fast 50Prozent genannt hat. Die richtige Idee einer progressiven Einkommensteuer ist längst ausgehebelt. Einst betrug der Spitzensteuersatz 62 Prozent, setzte allerdings hochgerechnet erst ab einem Betrag von ca. 320.000 Euro ein. Heute haben wir 50 Prozent ab 60.000 Euro. Der Einstiegssteuersatz lag bei zehn Prozent.

Die Höchstbeiträge in der SV führen zu einer fallenden Gesamtbelastung bei hohen Einkommen. Das ist ebenso unsinnig wie die Tatsache, dass man mit ein und demselben SV-Beitrag je nach Bundesland unterschiedliche Leistungsansprüche erwirbt. Noch absurder sind nur noch die Selbstbehalte in der gewerblichen SV, die für Kleinverdiener eine zusätzliche hohe Belastung darstellen. Über die kalte Progression wird ohnedies seit Langem folgenlos diskutiert.

Alles in allem: Ein bisserl am Tarif herumdrehen, da und dort einen Freibetrag oder einen Absetzbetrag erhöhen – die geübte Praxis bei Steuerreformen der vergangenen Jahre – ist eine Augenauswischerei. Eine ernsthafte Steuerreform muss eine radikale Gesamtreform des Systems von Steuern und SV umfassen. Nur dann verdient sie den Namen „Reform“.

Der erste und wichtigste Schritt: Abschaffung der SV, Ersetzung durch eine im Tarif eingearbeitete Sozialsteuer bei gleichzeitiger Beseitigung der Differenzierung in Selbstständige und Unselbstständige. Spreizung der Einkommensteuer in vielen kleinen Stufen von zehn bis 62 Prozent.

Aus für Pflichtmitgliedschaft

Weiters: Spitzensteuersatz ab 300.000Euro Jahreseinkommen, Indexierung der Steuerstufen zur Vermeidung der kalten Progression. Ein Sozialsystem für alle, Beseitigung der SV-Träger in der jetzigen Form und Zusammenführung in einer einzigen Institution. Parallel dazu Beseitigung der angeblichen Selbstverwaltung, die zu einem Aufmarschgebiet der Kammern und Gewerkschaften pervertiert ist. Zu Recht fühlt kein Versicherter sich „selbstverwaltend“.

Sodann: Abschaffung der Pflichtmitgliedschaft in den Kammern, einem Relikt des Ständestaates. (Eventuelle Ausnahme: die Arbeiterkammer. Sie tritt ihren Mitgliedern gegenüber nicht als Behörde auf und behindert sie nicht in ihrer Tätigkeit.)

Weitere Punkte: Besteuerung der Kapitalerträge mit dem normalen Tarif inklusive SV. Schaffung einer einheitlichen Volkspension, von der man vernünftig leben kann (also deutlich über der Mindestpension). Eine jährlich eingehobene Vermögensteuer auf ertragsloses Vermögen ist dagegen abzulehnen: Sie erschwert dem Mittelstand die Vermögensbildung und besteuert die Substanz.

Schweigen zu Lebensfragen

Allerdings spricht alles für eine Erbschaftssteuer beim Eigentumsübergang an jene, die zur Erarbeitung dieses Vermögens nichts beigetragen haben (also keine Steuer, wenn Lebenspartner die Erben sind, die in der Regel zur Vermögensbildung beigetragen haben).

Angesichts der bevorstehenden EU-Wahl sei allerdings angemerkt, dass eine Währungsunion ohne einheitliches Steuer- und SV-System für ganz Europa ein Unding ist. Doch über solche Lebensfragen wird im Wahlkampf lieber geschwiegen. Zu einem Zeitpunkt, da klar ist, dass Europa nur funktionieren kann, wenn es zu einem einheitlichen, demokratischen Staatswesen mit gemeinsamen Institutionen wird, rückt dieses Ziel dank einer verlogenen Politik in immer weitere Ferne. Die Bürger würden ein wirklich gemeinsames Europa derzeit nicht bejahen.

Man darf von der zu erwartenden Steuer„reform“ leider nur Kosmetik erwarten. Die Hofräte der Republik werden Änderungen zu verhindern wissen. Der Gestaltungsunwillen unserer Regierung ist eklatant. Eine Radikalreform im obigen Sinn als Vorbild für Europa ist von ihr nicht zu erwarten. Ist eh alles wurst!

E-Mails an:debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.05.2014)

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