Von Doppelstaatlern und vaterlandslosen Gesellen

Problematisch wird es dann, wenn der Herkunftsstaat Ansprüche auf kollektive Loyalität seiner Emigranten stellt. Siehe Türkei.

Als „vaterlandslose Gesellen“ bezeichnete Otto von Bismarck einst Sozialdemokraten und Kommunisten wegen ihrer internationalistischen Gesinnung. Klassensolidarität sei ihnen wichtiger als die Verbundenheit mit ihrer Heimat. Über ein Jahrhundert später hat ein deutscher Sozialdemokrat, Wolfgang Thierse, der erste Präsident des deutschen Bundestags, der aus der Ex-DDR stammte, diesen Heimatgedanken auf andere Weise wiederbelebt.

Er bezeichnete deutsche Unternehmen, die im Ausland investieren, ebenfalls als vaterlandslose Gesellen. Diese tun das aber oft auch aus Motiven, die man als internationalistisch bezeichnen könnte – nämlich um mit Investitionen im Ausland das Unternehmen in der Heimat halten zu können. Ein Beispiel dafür ist auch die österreichische Voest.

Dass jemand ein Vaterland hat, schien Bismarck und auch Thierse selbstverständlich, sonst hätte Letzterer nicht sogar Unternehmen darauf verpflichten wollen. In der modernen Staatenwelt findet die Zugehörigkeit zu einem solchen Vaterland ihren Ausdruck im Rechtsinstitut der Staatsbürgerschaft. Sie begründet ein ausschließliches Verhältnis zu „seinem“ Staat mit exklusiven Rechten, wie etwa dem Wahlrecht, aber auch Schutz im Ausland oder Teilhabe an Systemen der sozialen Sicherheit. Den Rechten korrespondieren selbstverständlich Pflichten. Die Staatsangehörigkeit konstituiert eine gegenseitige Loyalität von Bürger und Staat.

Gerade Einwanderungsgesellschaften wie die österreichische und die deutsche sind in besonderem Maß darauf angewiesen, dass sie einen gemeinsamen Kanon von Vorstellungen und Werten haben, die man früher unter den Begriffen Nation oder Vaterland oder später in einer Art Minimalprogramm „Verfassungspatriotismus“ genannt hat. Der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck hat kürzlich in einer schönen Rede bei einer Einbürgerungsfeier von einem neuen „Wir-Gefühl“ gesprochen, an dem Einheimische und Zugewanderte gleichermaßen teilhaben, aber auch arbeiten müssen, und zu dem sie mit ihren jeweiligen Eigenheiten beitragen.

Die Staatsangehörigkeit ist gewissermaßen die rechtliche und institutionelle Klammer, die sie verbindet.

Mehrstaatigkeit, für die sich aus Deutschland kommend das Wort vom Doppelpass eingebürgert hat („Doppelpass macht doppelt Spaß“), ist grundsätzlich nicht erwünscht. Es gibt internationale Vereinbarungen und Konventionen etwa des Europarats, die das Ziel haben, diese zu vermeiden. Sie erzeugt Konflikte im Familienrecht, beim Wehrdienst und beim Wahlrecht. Für Letzteres hat dieser Tage ein deutsch-italienischer Chefredakteur ein Beispiel geliefert. Er hat bei der Europawahl in beiden Ländern gewählt und behauptet, nicht gewusst zu haben, dass das illegal ist.

Zwei Modelle

Für den Erwerb der Staatsbürgerschaft gibt es zwei Modelle: das Recht der Abstammung (ius sanguinis – wörtlich: Recht des Blutes) und das ius soli (Recht des Bodens), also nach dem Ort der Geburt bzw. des regelmäßigen Aufenthalts. Österreich wie Deutschland gehören zu den wenigen Ländern, in denen das ius sanguinis gilt. Wer von österreichischen Eltern wo auch immer geboren wird, ist Österreicher; wer von nicht österreichischen Eltern in Österreich geboren wird, ist es nicht automatisch.

Die Einwanderungswellen der letzten Jahrzehnte stellen die Vorstellung und damit das politische Ziel von der exklusiven Staatsbürgerschaft zunehmend infrage. Auf der ganzen Welt nimmt die Zahl der Fälle von doppelter Staatsbürgerschaft zu. Oft entstehen sie auch dadurch, dass bei Erwerb einer neuen Staatsbürgerschaft der Herkunftsstaat seinen Bürger nicht entlässt. Das gilt etwa für einige nahöstliche Staaten.

Innerhalb der EU hat die Staatsbürgerschaft stark an Bedeutung verloren. Manchen erscheint sie deshalb in Europa geradezu als Auslaufmodell. Es gibt zwar eine fiktive „Unionsbürgerschaft“, sie ist aber Ausfluss von Staatsangehörigkeit in einem EU-Staat. Bürger eines EU-Staates dürfen in einem anderen nicht wegen ihrer Staatsangehörigkeit diskriminiert werden. Das führt zu einer weitgehenden Gleichheit in den Ansprüchen an den Aufenthaltsstaat. Ausgenommen davon ist das Wahlrecht, auch die Niederlassungsfreiheit steht unter der Bedingung eines geregelten Arbeitsverhältnisses.

Umstritten ist der Zugang zu Sozialleistungen, etwa der Bezug von Kindergeld für Kinder, die in der Heimat leben. Deutsche Sozialgerichte haben darüber nicht einheitlich entschieden, und auch die Judikatur des Europäischen Gerichtshofs ist nicht eindeutig.

Die deutsche Lösung

Deutschland hat das ius sanguinis schon 1999 durch ein starkes Element des ius soli ergänzt. Seit damals wird für „in Deutschland geborene und aufgewachsene Kinder ausländischer Eltern“ zunächst die deutsche Staatsangehörigkeit neben jener der Eltern vergeben. Bei Erreichen der Volljährigkeit muss sich der Betreffende entscheiden, ob er die deutsche Staatsangehörigkeit behalten oder jene seiner Eltern wählen will. In diesem Fall geht die deutsche verloren.

Entscheidet er sich bis zum 23. Lebensjahr nicht, geht die deutsche jedenfalls verloren. „In Zukunft entfällt dieser Optionszwang, und die Mehrstaatigkeit wird akzeptiert“ heißt es im Regierungsübereinkommen zwischen Unionsparteien und SPD.

Einzelfälle von Doppelstaatsbürgerschaft stellen kein Problem dar, solange nicht ein Herkunftsstaat Ansprüche auf kollektive Loyalität seiner Emigranten stellt. Das gilt etwa für die Türkei in Bezug auf die in Deutschland lebenden Türken. Die deutsche Optionslösung hat dazu geführt, dass einem anderen Staat Einfluss auf die Geltung deutscher Gesetze eingeräumt wird. Auch Ungarn versucht mit der Vergabe der Staatsbürgerschaft an Angehörige der ungarischen Minderheit in der Ukraine, der Slowakei, Rumänien und Serbien, sich eine Art nationales Vorfeld zu schaffen.

Ein Integrationsinstrument?

Paradoxerweise ist das ius sanguinis, das als Relikt eines veralteten Staatsverständnisses angesehen wird und für Deutschland tendenziell abgeschafft werden soll, für die zweite Staatsbürgerschaft aber der Maßstab. Man erwirbt sie nämlich nur durch Herkunft, auch wenn man in Deutschland geboren und aufgewachsen ist und dort lebt. In dieser Logik wird Mehrstaatigkeit dann natürlich auch vererbt. Dieser Widerspruch scheint aber niemanden zu stören.

Doppelstaatsbürgerschaft als Folge von Migration lässt sich oft nicht vermeiden. Ist sie aber auch ein Instrument von Integration in die Einwanderungsgesellschaft? „Wächst mit der Zahl der Pässe auch die Integrationsbereitschaft der Passinhaber?“, fragt ein Kommentator in der „FAZ“ sarkastisch.

Die deutsche Bundesregierung scheint das zu glauben, wenn sie mit der Abschaffung des Optionszwangs auch das Ziel von noch mehr Doppelstaatsbürgerschaften ausgibt. Wozu aber braucht, wer in Deutschland zur Welt gekommen, dort aufgewachsen ist und voraussichtlich bleiben wird – im Sinne Gaucks also zum deutschen „Wir“ gehört – dann noch eine andere Staatsbürgerschaft?

DER AUTOR

Hans Winkler war langjähriger
Leiter der Wiener Redaktion der
„Kleinen Zeitung“.

Debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.06.2014)

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