Warum Brasilien von der Fifa-WM profitieren wird

Die brasilianische Gesellschaft spielt bisher weit unter WM-Niveau.

Brasilien hat sich tatsächlich grundlegend verändert. Die Straßen rund um die Metropolen sind inzwischen großzügig asphaltiert und markiert. Allenfalls der Fahrzeugboom der vergangenen Jahre erzwingt gebremste Mobilität. Und natürlich beeindrucken die offiziellen Zahlen: eine Verdreifachung des Mindestlohns binnen zehn Jahren, Wirtschaftswachstum, wenngleich abgeschwächt. Brasilien ist die erstgenannte Macht unter den BRIC-Staaten.

Doch die oft propagierte grundlegende Veränderung des Riesenlandes beschränkt sich auf die (Straßen-)Oberfläche und Fassaden. Fast nur Asphaltproduzenten, Betonmischer und Immobilienspekulanten verdienten sich goldene Nasen wie einst Kaffeebarone und Zuckerrohr-Plantagenbesitzer. Zu viele Brasilianer sonnten sich aber in den vermeintlichen Aufbruchsjahren seit 2003 selbst in dieser Täuschung.

So wird die heute beginnende Fußball-WM in jedem Fall zu einem Gewinn für das Land. Erst recht, falls es mit dem Fußballtitel zu Hause nicht klappt. Denn die WM-Kostenexplosion, die Bauskandale und das Organisationschaos werfen ein unübersehbares Flutlicht auf die politische und ökonomische Wirklichkeit: Brasiliens Gesellschaft spielt weit unter WM-Niveau.

Individualistisch, egoistisch

Zwar mögen feiersüchtige Fans ihre Seleção noch zur sechsten Copa trommeln, doch mit ihrer epischen Ineffizienz und Inkompetenz, verschärft durch endemische Korruption, stehen sich die Brasilianer unendlich im Weg – quer durch alle Schichten. Noch so banale Organisationsabläufe geraten zur Herkulesaufgabe, mit Zahlen stehen sogar Maturanten und Akademiker auf Kriegsfuß.

„Wir sind sehr individualistisch und egoistisch“, beschreibt der brasilianische Schriftsteller Luiz Ruffato seine Landsleute und bestreitet, dass „wir so ein herzliches Volk sein sollen“. Vielmehr „versuchen wir trotz unseres Elends fröhlich zu sein“. Die Denunzierung von Rassismus hingegen bleibt ein Tabu, Brasilianer taxieren sich noch immer über die Hautfarbe ihrer Hausangestellten. Je heller, desto höher die soziale Wertschätzung.

Mittelschicht unter Druck

Die gestiegenen Mindestlöhne reduzierten millionenfache sklavenartige Ausbeutung, brachten aber die Mittelschicht unter Druck, die billige Arbeitskräfte für selbstverständlich hielt. Auch die Befriedung einiger Armenviertel durch Polizei und Militär zeigte paradoxe Folgen: Die gestiegene Sicherheit ließ Wohnungspreise explodieren.

Für touristische Dienstleistungen werden auch zu Nicht-WM-Zeiten europäische Spitzenpreise verrechnet, ohne das damit erwartbare Service zu bieten. Bei technologischen Entwicklungen hinkt das Land hinterher wie zu Zeiten der Militärdiktatur. Unfähigkeit paart sich mit Unflexibilität, eine selbstmörderische Mischung im Zeitalter der Globalisierung. Ausgerechnet in einem so körperbetonten Land entwickelte sich Übergewichtigkeit zum Massenphänomen.

In Rio de Janeiro wurden Straßenkinder zwecks Fußballfan-Täuschung in Gefängnisse weggesperrt, in São Paulo kauern sonntags mehr Obdachlose im mittleren Alter am Straßenrand als Fußgänger durch das Zentrum schlendern. Neu sind elektrisch geladene Zäune, die selbst bescheidene Wohnblocks gegen Überfälle schützen sollen.

Wenn Brasilien nun die Chance der Ernüchterung nicht ergreift, wird das B der BRIC-Staaten hemmungslos hinweggerissen werden. „Brasilien ist (noch) kein seriöses Land“, erklärte einst Charles de Gaulle. Stefan Zweig beschrieb Brasilien als „Land der Zukunft“. Beides gilt noch immer. Aber die Zukunft muss endlich beginnen.

Hans-Peter Martin war von 1989 bis 1991 Südamerika-Korrespondent des „Spiegel“ mit Sitz in Rio de Janeiro. Von 1999 bis 2014 Abgeordneter zum EU-Parlament.

E-Mails an:debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.06.2014)

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