Großbritannien, die EU - und ein Weckruf

Das Ergebnis der Europawahlen vom 25. Mai hat klargemacht: "Business as usual" ist keine Option für die weitere Zukunft der EU. Wir brauchen Reformen, um die Union wettbewerbsfähiger, fairer und flexibler zu machen.

Vor zwei Wochen haben die Bürgerinnen und Bürger Europas ein neues Europäisches Parlament gewählt. Erdrutsch, Schockwelle – die Presseberichte waren voller Metaphern, als die Resultate bekannt wurden. Die Analogie, die mir in den Sinn kam, war aber keine Naturkatastrophe, sondern ein Weckruf.

Vielerorts werden die Wahlergebnisse, vor allem jene in Großbritannien, als Zeichen gewertet, dass es für diesen Weckruf ohnedies schon zu spät sei und sich die Menschen schon zu weit von der EU entfernt hätten. Die Briten seien schon dabei, sich schlafwandelnd von der Union zu verabschieden, sagen manche.

Die Regierung in London sieht das anders. Die Resultate zeigen, dass der derzeitige Zustand der EU Menschen in ganz Europa desillusioniert hat. Angesichts der wirtschaftlichen Lage ist das kein Wunder. Wir erleben gerade die längste Rezession seit vielen Jahrzehnten.

Brauchen neue Gesichter

Doch es geht auch um die Politik. Mehr Wirtschaftswachstum, so wichtig es auch ist, wird nicht alle Probleme der EU lösen. Was wir brauchen, sind neue Antworten auf die Frage, wohin sich die EU entwickeln soll. Das war die Kernbotschaft der Aussagen von Premierminister David Cameron bei den Beratungen im Kreise des Europäischen Rats Ende Mai. Und es war eine Botschaft, die viel Echo fand.

Die Ergebnisse der EU-Wahl sind kein Anlass, um in Panik zu verfallen. Aber es ist klar, dass „business as usual“ auch keine Option ist. Was wir brauchen, ist eine neue Herangehensweise, sind einige neue Gesichter und eine neue Agenda für die nächste Kommission für die kommenden fünf Jahre, nach den Vorgaben des Rats.

Viele Regierungsspitzen sind entschlossen, die EU zu reformieren. Deshalb ist David Cameron, gemeinsam mit Angela Merkel und Mark Rutte aus den Niederlanden, zuletzt der Einladung des schwedischen Premiers Fredrik Reinfeldt gefolgt. Gemeinsam hat man über die Herausforderungen der EU bis 2020 diskutiert. Für Großbritannien liegen diese Herausforderungen klar bei höherer Wettbewerbsfähigkeit, bei Fairness unter den Mitgliedstaaten und bei mehr Flexibilität.
Wettbewerbsfähigkeit, weil der Wahlausgang die tief sitzende Sorge offengelegt hat, dass die EU ihr primäres Ziel aus den Augen verloren hat, nämlich den Wohlstand der europäischen Bürgerinnen und Bürger sicherzustellen. Die neue Kommission, die Mitgliedstaaten, die nationalen Parlamente und das Europaparlament brauchen einen strikten Fokus auf die Schaffung von Arbeitsplätzen und Wachstum. Freier Handel, weniger und zielgerichtetere Regulierung, weniger Barrieren für Handelsverkehr und Innovation – dies müssen die Leitlinien sein, um den Herausforderungen der Globalisierung und des demografischen Wandels wirksam entgegenzuwirken.

Weiterentwicklung für alle

Fairness, weil die Weiterentwicklung der Union für alle Mitgliedstaaten funktionieren muss, gleich ob groß oder klein, ob in- oder außerhalb der Eurozone. Die Regierungen der Euroländer müssen die richtigen Entscheidungen treffen können, um die einheitliche Währung zu stabilisieren und zu stärken. Diese notwendigen Maßnahmen in der Eurozone laufen auf mehr „variable Geometrie“ in der EU hinaus, mit einer Reihe verschiedener Konstellationen von Mitgliedstaaten, die in diversen Politikbereichen kooperieren.

Daraus sollte eine effektivere EU hervorgehen, eine Organisation mit der Flexibilität eines Netzwerks, nicht der Rigidität eines monolithischen Blocks. Diese Sichtweise teilen viele in Europa. Der einheitliche Zugang zum Binnenmarkt und die nicht diskriminierende Behandlung aller Mitgliedstaaten, im Speziellen jene mit leistungsstarken Finanzsektoren wie Großbritannien, müssen dabei gewahrt werden, um die Wettbewerbsfähigkeit der Union nachhaltig zu erhöhen.

Grundsatz der Subsidiarität

Schließlich Flexibilität. Wenn die EU-Wahl eines gezeigt hat, dann die Tatsache, dass die europäischen Institutionen sich gefährlich weit von jenen entfernt haben, die für sie bezahlen und die ihre Zusammensetzung bestimmen. Zentralisierung und Harmonisierung in der Verfolgung abstrakter Ziele müssen durch eine bürgernähere und modernere Vision für Europa ersetzt werden. Kern dieser Vision muss nach der Maßgabe der niederländischen Regierung ein „Europa, wo notwendig – national, wo möglich“ sein.

Die EU entwickelt sich stetig weiter. Wir müssen uns klar darüber werden, wann es angebracht ist, Entscheidungen auf nationaler oder lokaler Ebene – also nahe am Bürger – zu treffen, und wann es besser ist, Maßnahmen auf EU- oder sogar globaler Ebene zu ergreifen. Dabei ist stets dem Grundsatz der Subsidiarität und der eigenständigen Rolle nationaler Parlamente Rechnung zu tragen.

Schon 2001 haben Europas Regierungsspitzen vereinbart, dass Kompetenzen nach unten wie nach oben fließen müssen – weg vom Zentrum wie auch hin nach Brüssel. Es ist höchste Zeit, dieses Prinzip in die Tat umzusetzen.

Die Europawahlen waren ein Weckruf. Einige Europäer, auch Österreicher, haben die Tendenz, die britische Europaperspektive als Schlechtmacherei anzuprangern – das laute Inselvolk, das immer wieder den Status quo und das ganze Projekt infrage stellt, so die Kritiker. Aber immer mehr zeigt sich, dass unsere Debatte eine europäische Debatte ist. Es geht nicht darum, die EU in ihrer Entwicklung zu hemmen, sondern sie fit für die Zukunft zu machen.

Reformen ein Gebot der Stunde

Trotz Differenzen in Details stimmen alle britischen Parteien in dieser Grundsatzfrage überein. Die Konservativen wollen nach der Neuverhandlung der Position Großbritanniens in der EU Ende 2017 ein In/Out-Referendum abhalten. Labour und Liberaldemokraten wollen ein solches Referendum nur, wenn eine Vertragsänderung Kompetenzabtretungen Großbritanniens nach Brüssel brächte.

Aber alle politischen Kräfte sehen die Notwendigkeit von Reformen. Das ist kein Ausdruck einer europakritischen Haltung, im Gegenteil. Premierminister Cameron hat es im Jänner 2013 klar auf den Punkt gebracht: Britische Interessen sind in einer flexiblen und offenen EU am besten vertreten. Und diese Union profitiert von Großbritannien als Mitglied.

Die EU-Mitgliedschaft liegt in Großbritanniens nationalem Interesse. Wir sind entschlossen, eine führende Rolle in einer starken und stabilen EU zu spielen. Die Zugehörigkeit zur EU ist für uns von zentraler Bedeutung bei der Schaffung von Arbeitsplätzen, der Ausweitung unseres Handels und dem Schutz unserer Interessen in der ganzen Welt.

Die EU kann sich eine Reihe von Errungenschaften zugute halten. Aber sie hat auch echte Defizite und braucht Reformen, wenn sie den aktuellen und künftigen Problemen gewachsen sein will.

E-Mails an:debatte@diepresse.com

DER AUTOR



Susan le Jeune d'Allegeershecque
ist seit 2012 britische Botschafterin in Österreich sowie britische Vertreterin bei den Vereinten Nationen und anderen internationalen Organisationen in Wien. Sie begann ihre Karriere im britischen Außenamt 1985 und hatte Posten in Brüssel, Singapur, Südamerika und Washington DC inne. Zuletzt war sie Mitglied des Leitungsgremiums im Foreign Office. [ Britische Botschaft]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.06.2014)

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