Nicht nur, weil sie Juden sind

Die Annahme, die Judäophobie im Nahen Osten sei eine Reinkarnation des europäischen Antisemitismus, ist ein klassischer Fall von Projektion.

Israel ist nicht in, aber von Europa. Das Bewusstsein eines europäisch-christlichen Antisemitismus, der im Holocaust kulminierte, kann wohl als das entscheidendste emotionelle Element in europäischen Haltungen zum Nahen Osten angesehen werden. Um den Einfluss dieser (und anderer) emotioneller Elemente beurteilen zu können, halte ich den psychoanalytischen Begriff der Projektion für besonders nützlich. Wir verstehen darunter die Zuschreibung von eigenen Haltungen, Gefühlen und Erinnerungen an andere.

Dem möchte ich eine zweite Beobachtung hinzufügen: Nach meiner Erfahrung haben Wissenschaftler, die sich mit europäischem Antisemitismus befassen, häufig keine Ahnung vom Nahen Osten. Normalerweise übernehmen sie das israelisch-zionistische Narrativ unhinterfragt. Umgekehrt müssen wir häufig feststellen, dass Nahostexperten zu wenig Sensibilität für Phänomene des Antisemitismus aufbringen. Die Annahme etwa, es handle sich bei der modernen Judäophobie im Nahen Osten um eine Reinkarnation des europäischen Antisemitismus, kann als grober methodologischer Fehler und klassischer Fall von Projektion angesehen werden.

Selbst Europas Rechte hofiert Israel

Projektive Ansichten über Israel in Europa dürfen jedoch nicht auf dieses Beispiel reduziert werden. Sie könnten, grob vereinfacht, in folgende Kategorien eingeteilt werden: Israel ist schlecht, weil es jüdisch ist; Israel ist gut, weil es europäische (westliche) Werte vertritt; Israel ist schlecht, weil es westliche (europäische) Interessen vertritt; Israel ist gut, weil es jüdisch ist.

Man hat die seit dem Beginn der 2. Intifada (2000) häufiger auftretenden verbalen und manchmal physischen Attacken gegen Juden und jüdische Einrichtungen in Europa als „Neuen Antisemitismus“ bezeichnet. Das Phänomen ist insofern neu, als es im Kontext von Entwicklungen im Nahen Osten verstanden wird. Aber handelt es sich um Antisemitismus? Haben wir es mit der Kontinuität und/oder Verwandlung einer traditionellen Feindseligkeit zu tun?

Diese Diagnose übersieht die Lage jüdischer Gemeinden in einem neuen Europa, das sich als Antithese zu Nazismus und Holocaust versteht. Kein Staat, keine relevante Partei in Europa vertritt ein antisemitisches Programm. Selbst Rechtsparteien hofieren jüdische Gemeinden und Israel als (potenzielle) Bündnispartner im Kampf gegen eine islamische Gefahr. Juden gelten als Europäer par excellence, Muslime nicht. Es gibt einen quasi-offiziellen Philosemitismus, der sich in Gedenkstätten, Museen und Kultur manifestiert.

Jede dem Nahen Osten entspringende Feindseligkeit als antisemitisch zu brandmarken kann auf eine unerwünschte Wirkung hinauslaufen: eine Banalisierung und Trivialisierung des genuinen Antisemitismus. Sie kann auch einer falschen oder tendenziösen Beurteilung der Feindseligkeit von Arabern oder Muslimen entspringen. Es ist meist nicht der alte antisemitische Wahn europäisch-christlicher Prägung, der Muslime im Allgemeinen und selbst die wenigen Gewalttäter motiviert. Es handelt sich vielmehr um einen bedauernswerten Nebeneffekt von jüngeren Ereignissen im Nahen Osten und weltweit. Nicht-Europäern den alten Antisemitismus zu unterstellen kann im Übrigen einem Entlastungswunsch dienen und entspricht den oben beschriebenen Mechanismen der Projektion und Externalisierung.

Ein Staat des jüdischen Volkes

Um Strömungen unter Muslimen in Europa beurteilen zu können, muss der globale Kontext, zum Beispiel die Rede vom Kampf der Kulturen, berücksichtigt werden. 9/11 und andere „jihadistische“ Anschläge wurden vorschnell „dem“ Islam zugeschrieben, sodass sich Muslime einem Kollektivverdacht ausgesetzt sahen.

Eine Vertiefung des Dilemmas ist dem Umstand geschuldet, dass sich Israel als Staat des jüdischen Volkes definiert. Die offiziellen jüdischen Gemeinden in der Welt akzeptieren diese Definition – und verhalten sich entsprechend. Es ist also nicht richtig zu behaupten, nur Antisemiten würden Juden mit Israel identifizieren – auch wenn diese es mit anderen Absichten tun.

Eine weitere Komplikation ergibt sich aus dem israelischen Bedürfnis, Kritik und Widerstand zu delegitimieren. Dieses Bedürfnis ist so alt wie der Palästina-Konflikt. Arabische Ablehnung der zionistischen Kolonisation musste schon zuvor als grundloser Hass „erklärt“ werden. Obwohl Führer wie Ben-Gurion oder Jabotinsky nach innen das Verhalten der palästinensischen Araber für voraussehbar und rational hielten, „erklärten“ sie es nach außen als Projektion, indem das alte europäische Feindbild des Antisemitismus auf die Araber übertragen wurde. Selbst heute noch wird stereotyp behauptet, dass Siedler oder Soldaten nicht angegriffen werden, weil sie eine Besatzungsmacht repräsentieren, sondern einfach, weil sie Juden sind.

Ein ähnlicher Mechanismus ist am Werk, wenn es gilt, europäische Kritik am Verhalten des israelischen Staates zu delegitimieren. In einem Teufelskreis wird die Diagnose, es handle sich um (neuen) Antisemitismus, benutzt, um das ursprüngliche Anliegen des Zionismus zu begründen: Juden sollten Europa zu Gunsten der „sicheren Heimstatt“ in Israel/Palästina verlassen.

Europäische Haltungen sollten demnach sorgfältig geprüft werden, bevor man ein Urteil über deren Bedeutung und Charakter fällt. Zunächst gilt es zu fragen: Wer sagt was und warum? Eine antisemitische Motivation ist offensichtlich, wenn Israel angegriffen wird, „weil“ es jüdisch ist oder als jüdisch gilt. Weiters wird man davon ausgehen können, dass Gleichsetzungen zwischen Israelis und Nazis (besonders wenn sie von Deutschen oder Österreichern vorgenommen werden) einem Entlastungswunsch dienen.

Projektion auch hier: Es gab nämlich keinen „Konflikt“ zwischen Nazis und Juden. In Israel/Palästina haben wir es nicht mit einer Umsetzung von genozidalen Wahnideen zu tun. Im Grunde kämpfen Israelis gegen Palästinenser nicht deshalb, weil sie Araber sind; und Palästinenser kämpfen gegen Israelis nicht deshalb, weil sie Juden sind. Wir haben es vielmehr mit einem kolonialen Konflikt sui generis zu tun.

Die Dämonisierung des Gegners

Aber wegen der langen Dauer der Auseinandersetzung hat sich auf beiden Seiten ein legitimatorischer Überbau herausgebildet. Und in diesen Prozess gehen Stereotypen, Stigmata und Vorurteile ein. Sie alle dienen einem Zweck: der weiteren Dämonisierung des Gegners. Hier finden wir im Übrigen den wichtigsten Kontext für judenfeindliche oder den Holocaust leugnende Statements von arabischen oder muslimischen Sprechern. Damit sollten jedoch andere Elemente nicht ignoriert werden, wie importierter europäischer Antisemitismus oder die Ausschlachtung von antijüdischen Passagen im Koran.

Die „Gleichsetzer“ ignorieren also den Charakter des Konflikts – und das wohl nicht aus Sympathie für die Palästinenser: Zunächst ignorieren sie, dass die Palästinenser indirekte Opfer der europäisch-christlichen Verfolgung von und Gewalt gegen Juden wurden. Daher: keine Entlastung von Schuld und Verantwortung. Weiters führen psychische Bedürfnisse zu einem uneingestandenen Wunsch, die Palästinenser mögen die „Juden“ der Juden werden. Daher wird israelische Politik gern mit Begriffen wie „Endlösung“, „Deportation“ oder „Völkermord“ bedacht.

Leugnen ist keine Antwort

Während jede Dämonisierung vermieden werden sollte, erweist es sich andererseits als kontraproduktiv, schwerwiegende, ja strukturelle Verletzungen palästinensischer Rechte zu leugnen. Wir müssen einen legitimen Diskurs entwickeln, der sowohl die Realität in Israel/Palästina reflektiert, als auch eine Perspektive von Gleichheit und Gerechtigkeit für beide Seiten einschließt und historische Verantwortlichkeiten ernst nimmt. Ein solcher Diskurs wäre von Mechanismen der Projektion zu unterscheiden, die das Drama um Israel/Palästina benützen, um alten Hass zu schüren oder neuen Identitäts-Konstrukten zu dienen. Solche Muster perpetuieren nur gegenseitige Stigmatisierungen, Gewalt und Tragödien.

Univ.-Doz. Dr. John Bunzl ist Nahostspezialist des Österr. Inst. f. Internationale Politik (OIIP) und Mit-Herausgeber des soeben erschienenen Buches „Zwischen Antisemitismus und Islamophobie“ (VSA-Verlag).


meinung@diepresse.com("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.05.2008)

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