Die vierte große industrielle Revolution

Plädoyer für einen leistungsfähigen Hightechsektor als dringend nötiger Standortvorteil für Europa.

Der Siegeszug der modernen Informations- und Kommunikationstechnologie (IKT) ist unaufhaltsam – auch im produzierenden Gewerbe. Intelligente vernetzte Fertigungssysteme ändern die Art, wie Unternehmen produzieren, fundamental: Industrie 4.0 ist die vierte große industrielle Revolution nach Dampfmaschine, Massenproduktion und Automation.

Das Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation rechnet bis 2020 mit weltweit 50 Milliarden vernetzten Geräten. Maschinen werden untereinander und mit ihren Bedienern in Echtzeit digital kommunizieren, reale Fabrikprozesse im virtuellen Raum sicht- und steuerbar. Die IKT wird so künftige Geschäftsmodelle dominieren.

Die Entwicklung zur Industrie 4.0 ist eine große Chance: Ein leistungsfähiger Hightechsektor kann zum Innovationsmotor werden, den Europa im Wettbewerb dringend braucht. Denn es hat, mit Ausnahme von SAP, praktisch keine nennenswerten Unternehmen im Bereich der IKT mehr.

Von Internetfirmen wie Google und Facebook bis hin zu PC- und Smartphone-Herstellern wie Apple und Samsung, von Softwarefirmen wie Microsoft oder Oracle bis hin zu Netzbetreibern wie AT&T und China Mobile: Außereuropäische Unternehmen dominieren diesen Bereich, vor allem die USA und Asien mit China, Japan und Südkorea.

Kernkompetenz Industrie

Doch bei Industrie 4.0 ist die IKT eben nur eine Seite der Medaille. Die andere sind ihre Anwendung im industriellen Bereich und das Nutzen der sich daraus ergebenden Vorteile in der Wertschöpfungskette. Hier hat Europa die besten Voraussetzungen, denn Industrie spielt in der europäischen Wirtschaft nach wie vor eine zentrale Rolle: Ihr Anteil an der Wirtschaftsleistung liegt in der EU bei 15 und in Deutschland bei rund 24 Prozent, in den USA nur bei rund 12 Prozent.

Mit dieser ausgeprägten Kompetenz im industriellen Bereich – und zum Teil auch in der industrienahen Informationstechnologie – können wir wieder neue IKT-Unternehmen anziehen und unsere traditionelle Produktionstechnologie zum Innovationsführer bei Industrie 4.0 ausbauen.

Diese Chance müssen wir nutzen, denn die Vernetzung und Digitalisierung von Industrie und Wirtschaft werden das globale Kräfteverhältnis verändern. Das Muster kennen wir von der letzten, der dritten industriellen Revolution: Als Elektronik und Computer in die Industrie einzogen und die Produktion weiter automatisierten, verlor der Faktor Arbeit an Bedeutung. Dadurch gewann zum Beispiel Deutschland insgesamt als Industriestandort im globalen Wettbewerb, auch wenn in manchen Branchen Arbeitsplätze wegfielen. In anderen wurden neue geschaffen. Die vierte industrielle Revolution wird noch umfassender, branchenübergreifender und komplexer ausfallen. Bei Industrie 4.0 geht es darum, Big Data, anlagenspezifische Software und die Hardware Produktionstechnik innovativ miteinander zu verknüpfen.

Schon heute liefert jede Produktionsanlage unaufhörlich Daten. Diese effizient nutzen zu können, bedeutet einen erheblichen Wettbewerbsvorteil. Werden Prozessdaten intelligent aufbereitet, lassen sich etwa Stromfresser im Produktionsablauf identifizieren und beseitigen. Solche Anwendungen können Unternehmen einen Kostenvorteil von bis zu 80 Prozent bringen. Konsequent weitergedacht schafft Industrie 4.0 die Vision einer komplett vernetzten Produktionslandschaft, in der sich Aufträge selbstständig durch ganze Wertschöpfungsketten steuern, Bearbeitungsmaschinen und Material buchen und ihre Auslieferung organisieren.

Um auf diesem Zukunftsfeld durchzustarten, muss Europa jetzt die Weichen stellen und vor allem an drei Bereichen aktiv werden: in der Infrastruktur, bei Bildung, Forschung und Entwicklung sowie bei der Förderung und Finanzierung von Start-ups.

Erstens Infrastruktur: Langsame Internetverbindungen sind ein Standortnachteil, wie schlechte Straßen oder mangelhafte Elektrizitätsversorgung. Um Europas Infrastruktur, die traditionelle als auch die Internetversorgung, zu modernisieren und auszubauen, müssen wir mindestens eine Billion Euro investieren. Das Geld dafür könnte aus den rund 170 Billionen Euro an privatem Kapital kommen, für die Investoren weltweit nach Investitionsmöglichkeiten suchen.

Dafür brauchen wir ideologiefreie und verlässliche Rahmenbedingungen, die private Investitionen in Infrastruktur erleichtern. Zudem müssen wir einen echten europaweiten Binnenmarkt für Infrastrukturdienstleistungen schaffen, denn heute ist dieser im Vergleich zu den USA zersplittert. Ein einheitlicher Binnenmarkt würde die Konsolidierung fördern, Kosten senken und die Attraktivität für Investoren erhöhen.

Zweitens Bildung sowie Forschung und Entwicklung (F&E): Bei den Arbeitskosten kann Europa nicht mit anderen Anbietern konkurrieren, zumal nicht mit den asiatischen. Daher muss es seinen Vorteil in wissensintensiven Industrien weiter ausbauen. Denn nach wie vor investiert Europa mit 1,9 Prozent des BIPs knapp einen Prozentpunkt weniger als die USA und 1,6 Prozentpunkte weniger als Japan in F&E.

Asien liegt weit voraus

Es gilt, die entsprechenden Etats sowohl der Wirtschaft als auch der öffentlichen Hand aufzustocken und F-&-E-Investitionen durch steuerliche Vorteile zu fördern. Auch brauchen wir mehr Absolventen in Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik: In Europa studieren nur 17 Prozent der Hochschüler MINT, in Südkorea entscheiden sich 29 und in China und Taiwan sogar je 31 Prozent der Studenten dafür.

Drittens brauchen wir mehr Start-ups in Europa, um neue Ideen, Firmen und Geschäftsmodelle zu etablieren. Ein Blick auf das Alter der innovativsten Unternehmen zeigt: In den USA wurden 22 Prozent von ihnen nach 1965 gegründet und nur 56 Prozent vor 1925. In Europa hingegen wurden zwei Prozent nach 1975 gegründet und 86 Prozent vor 1925! Es gilt, die Finanzierungsmöglichkeiten für Start-ups zu verbessern, etwa durch steuerliche Anreize für Wagniskapital: In den USA werden davon rund 20 Milliarden Dollar pro Jahr investiert, in Europa gerade einmal vier Milliarden Dollar.

So zieht Silicon Valley innovative Gründer an, während Europa an Attraktivität einbüßt. Europa braucht mehr Cluster, in denen Gründungs- und Großunternehmen zusammenarbeiten und zwischen denen europaweite Wertschöpfungsketten entstehen können.

Zudem ist Risikofreude zu stärken und Scheitern zu enttabuisieren und erfolgreiche Gründer sind als Vorbilder zu etablieren.

Dieses Dreisäulenprogramm muss langfristig ausgerichtet sein. Politik, Wissenschaft, Wirtschaft, Gewerkschaften und Finanzinvestoren müssen dabei gezielt zusammenarbeiten. Dann hat Europa beste Aussichten, den Innovationsmotor Industrie 4.0 erfolgreich für sich zu nutzen.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

DER AUTOR



Roland Berger,
geb. 1937 in Berlin, ist ein deutscher Unternehmens- und Politikberater. Die von ihm gegründete Firma Roland Berger Strategy Consultants in München ist mit 2000 Mitarbeitern die größte Strategieberatung in Europa und die fünftgrößte weltweit. Berger wechselte 2003
vom Vorstand in den Aufsichtsrat.
[ Yves Lacombe Photographe ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.07.2014)

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