Wunsch und Wirklichkeit in der Piketty-Debatte

Es bedarf der ökonomischen Analyse, um den politisch-ideologischen Forderungen zu widerstehen.

Thomas Piketty ist angekommen. Auf Einladung der Arbeiterkammer stellte der französische Ökonom seinen knapp 700Seiten umfassenden Bestseller „Capital in the 21st Century“ vor. Und hat damit auch hier Diskussionen und Kommentare ausgelöst.

Während die wirtschaftswissenschaftliche Kritik an Daten, Methoden und Schlussfolgerungen kaum in die Medien findet, dominiert in der Öffentlichkeit der Eindruck, hier läge eine fundamentale Kapitalismuskritik vor: Der vermeintlichen Gefahr einer im 21.Jahrhundert dramatisch ansteigenden Ungleichheit müsse mit einer globalen, progressiven Substanzbesteuerung allen Vermögens begegnet werden – zusätzlich, nicht anstelle der bestehenden Besteuerungsarten.

So hat Bernhard Felderer hier ökonomisch argumentiert, warum die von Piketty empirisch gewonnene Erkenntnis r>g (Ertragsrate des Kapitals liegt über der Wachstumsrate der Lohneinkommen) langfristig gelten muss.

Ökonomie? Oder Politik

Halt, das Bestehende dürfe nicht mit dem Argument verteidigt werden, es sei gut, wie es ist, weil es eben so ist, entgegnet Armin Thurnher politisch argumentierend, weil er den ökonomischen Mechanismus, auf den Felderer abzielt (dynamische Effizienz), nicht zur Kenntnis nimmt.

Während sich Thurnher auf gepflegt intellektuellem Niveau bloß verirrt, lässt die Replik von Markus Marterbauer jegliche Substanz vermissen. Man hätte erwartet, dass er sich mit Felderers Argument und dem Verhältnis von r und g auseinandersetzt. Stattdessen der pauschale Vorwurf an Felderer, er bediene sich einer uninformierten und oberflächlichen Argumentation („Kann das Buch kaum gelesen haben“), um so Pikettys Werk als interessengeleitet zu denunzieren.

Sowohl Thurnher als auch Marterbauer dürften die Seiten 360 und 361 überblättert haben: Dort erläutert Piketty, warum r>g gelten muss, er aber einen historisch-empirischen Erkenntnisgewinn der ökonomischen Logik vorzieht.

Wenn nun Felderer, bloß weil er auf unrichtige Schlussfolgerungen hinweist, von Marterbauer taxfrei auf die Seite der Millionäre gestellt wird, steht dann Peter Bofinger, der bei Piketty nicht nur einen fundamentalen Widerspruch zwischen dessen eigener Theorie und eigenen Daten, sondern eine Reihe von Fehlschlüssen ausmacht, auf Seite der Milliardäre? Peter Bofinger, von Gewerkschaftsseite nominierter Wirtschaftsweise, laut „Spiegel“ einziger linker Ökonom in diesem Kreis.

Und wo steht Marterbauer selbst, wenn er ein höheres Inflationsziel in der Geldpolitik fordert, wenn doch, wie Piketty schreibt, Inflation die Vermögensungleichheit wahrscheinlich erhöht?

Fundamentale Widersprüche

Zurück zu Piketty und der Beziehung zwischen Kapitalertragsrate (Rendite) und Lohn- bzw. Wirtschaftswachstum, die im Mittelpunkt der meisten Diskussionen steht (der Begriff Kapital- bzw. -stock wird synonym für Vermögen verwendet, umfasst daher alle Arten von Vermögenstiteln). Gemeinsam mit dem „First Fundamental Law“ (einer buchhalterischen Identität zwischen Vermögen, Vermögens- und Gesamteinkommen sowie Rendite) und dem „Second Fundamental Law“ (einer Gleichgewichtsbeziehung – abgeleitet aus dem langfristigen Wachstumsmodell –, die das Verhältnis von Vermögen zu Einkommen dem Verhältnis von Sparquote und Wachstumsrate gleichsetzt) bildet r>g Pikettys methodischen Analyserahmen.

Während üblicherweise diese „laws“ in der Literatur als Bruttogrößen, d. h., auch Abschreibungen beinhaltend formuliert werden, unterstellt Piketty eine langfristig konstante Netto- statt Bruttosparquote. Das mag wie ein technischer Disput unter Ökonomen klingen, hat aber enorme Konsequenzen.

Sinkt das Wachstum gegen null, steigt die Sparquote gegen unendlich, wie Piketty richtig schreibt. Empirisch beobachten wir jedoch das Gegenteil: Bei niedrigem Wachstum sinkt in der Regel die Sparquote!

Theorie und Empirie

Weitere Konsequenz: Auch das Vermögen relativ zum Einkommen steigt stark, wenn das Wachstum sinkt (auf Werte wie Anfang des 20.Jahrhunderts) – die zentrale Sorge Pikettys, die für ihn den Ruf nach Vermögensteuern begründet.

Es ist die unplausible Annahme einer konstanten Nettosparquote, die zum Ergebnis führt. Unter Anwendung wohletablierter, d.h. empirisch gesicherter Modelle (Berücksichtigung der Abschreibungen), würde sich die Dramatik einer befürchteten Vermögenskonzentration fast in Luft auflösen.

Anders als in der medialen Öffentlichkeit dargestellt – und für den ökonomischen Laien nicht sofort erkennbar – folgt aus einer die Wachstumsrate übersteigenden Rendite nicht zwingend, dass die Vermögen rascher wachsen als das Volkseinkommen. Das diskutiert auch Piketty so. Entscheidend dafür, ob das Vermögen relativ zum Einkommen steigt, gleich bleibt oder sogar sinkt, ist die Substitutionselastizität zwischen Arbeit und Kapital.

Piketty interpretiert seine Daten dahingehend, dass diese Elastizität größer als eins sei, daher die Ungleichheit bei r>g steige. Fast alle empirischen Studien zeigen jedoch Werte unter eins, meist im Bereich zwischen 0,4 und 0,6. Weit niedriger als der Wertebereich von 1,3 bis 1,6, den Piketty für sein Ergebnis künftig steigender Vermögenskonzentration benötigt.

Bleibt das „Problem“, dass im 20. Jahrhundert meist r < g war. Piketty erklärt dies mit außerordentlichem Wachstum, das langfristig wieder auf 1,5 Prozent sinken wird, und einer unterstellten 30-prozentigen Steuer auf die Rendite zwischen 1913 und 2012, die er bis 2050 auf zehn Prozent, danach auf null setzt (Steuerwettbewerb!) – so steigt r - g wieder auf historische Werte – als Input für seine Prognose bis 2200.

Erst der Anfang der Debatte

Es ist das Verdienst Pikettys, Verteilungsfragen in die öffentliche Diskussion zu bringen. Auch die Zusammenstellung umfangreicher Daten ist zu würdigen. Es ist jedoch der Anfang, nicht das Ende einer Diskussion, zumal Piketty ausschließlich Markteinkommen analysiert, während für Verteilungsfragen die verfügbaren (Haushalts-)Einkommen (d.h. inklusive Transfers etc.) relevant sind – also Umverteilung durch den Wohlfahrtsstaat berücksichtigt werden muss.

Während Piketty wiederholt auf die Unsicherheiten und Unzulänglichkeiten seiner Daten hinweist, erstaunt das Selbstbewusstsein, mit dem er in Folge seine Prognosen (bis ins Jahr 2200) und, daran anknüpfend, die politischen Forderungen formuliert.

Der Wunsch nach massiver Vermögensbesteuerung lässt sich mit Pikettys Werk jedenfalls nicht begründen, so wie die Wirklichkeit seine Prognosen bald vergessen machen wird.

DER AUTOR

E-Mails an: debatte@diepresse.comPeter Brandner ist Sprecher der neuen politischen Denkfabrik „Die Weis[s]e Wirtschaft“ (weissewirtschaft.at), Lektor an der Uni Wien und Fachexperte für empirische Wirtschafts- und Finanzmarktforschung im Finanzministerium. Brandner gibt in diesem Gastkommentar ausschließlich seine persönliche Meinung wieder.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.07.2014)

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