Hochgejubelt, aber banal – vergesst Piketty!

Ein höheres Maß an ökonomischer Egalität kann mehr Menschen Chancen bieten. Pikettys Buch leistet dafür keinen Beitrag.

Die politische Linke hat den seltsamen Drang zu Modellen und Vorbildern, die wie der Stern von Bethlehem den Weg weisen sollen. Dummerweise steht am Ende nicht Erlösung, sondern Ernüchterung. Im Lauf der Jahre hat sich da viel Frustration angesammelt: Nordvietnam, China, Kuba, Albanien – die Liste sollte Lehre genug sein. Auch die erwählten Personen erwiesen sich als Chimären: Castro, Guevara, zuletzt Chavez. Verglüht wie Sternschnuppen. Oder Antonio Negris „Empire“ – hochgejubelt und ohne erkennbare Spuren folgenlos aus dem Diskurs verschwunden.

Und jetzt der neue Heilige, Thomas Piketty. Wenn Markus Marterbauer in der „Presse“ Bernhard Felderer vorwirft, dass dieser – ebenfalls in der „Presse“ – Piketty denunziere und sich „auf die Seite der Millionäre“ stelle, könnte man dies noch als politische Retourkutsche ignorieren, wenn Marterbauer sich nicht hinreißen ließe, Pikettys Buch als „grandios“ zu bezeichnen und gleichzeitig Felderers Vorwurf „interessengeleiteter Argumentation“ gegen diesen selbst zu wenden.

Es gibt keine objektive Antwort

In Sachen „interessengeleitet“ seien beide Autoren darauf hingewiesen, dass das im Wesen der Sache liegt. Sozialwissenschaften sind halt nur begrenzt „wissenschaftlich“, wenn man sinngemäß Kriterien der Naturwissenschaften anlegte.

Für den Nachweis des Higgs-Bosons ist der politische Standort der Physiker ziemlich schnurz. Es mag auch in der Physik „Lager“ geben, aber solange es etwa den String-Theoretikern nicht gelingt, verifizierbare Thesen zu formulieren, werden Strings mangels Falsifizierbarkeit spekulativ bleiben. Schlussfolgerungen aus ökonomischen Thesen sind aber unvermeidlich „interessengeleitet“. Denn schon bei einer wesentlichen Grundfrage der Ökonomie sind Antworten von Interessenlage und Ideologie abhängig: Ist Ungleichheit eine Voraussetzung für Wohlstand oder verhindert sie ihn? Welches Maß an ökonomischer Ungleichheit ist akzeptabel? Schafft hohe Ungleichheit besonders hohen Wohlstand? Oder ist das Gegenteil der Fall?

Für beides finden Globalisierungsfans und -gegner entsprechende Zahlen, die sie einander um die Ohren hauen können. Glaube nur jener Statistik, die du für deine Zwecke brauchst. Die Zahlen von Piketty geben keine objektive Antworten, weil es die nicht geben kann. Der Wirtschaftsliberale Bernhard Felderer wird andere Schlüsse ziehen als der Sozialdemokrat Markus Marterbauer. Sie haben einander also nichts vorzuwerfen. Es gilt Kurt Tucholskys Satz: „Nichts ist verächtlicher als wenn Literaten Literaten Literaten nennen.“

Nun verhehle ich als bekennender Sozialdemokrat nicht, mit der sozialen Grundhaltung Marterbauers übereinzustimmen: Wachsende Ungleichheit ist kontraproduktiv; ich glaube (!!!), dass eine Gesellschaft, in der Einkommen und Vermögen nur begrenzt auseinanderdriften, in der ein hohes Maß an ökonomischer Egalität herrscht, einer größeren Anzahl von Menschen mehr Chancen auf eigene Lebensentwürfe und sinnvolle Lebensgestaltung bietet.

Pikettys Buch leistet dazu keinen Beitrag. Es ist – mit Verlaub – höchst banal und fällt im Erkenntniswert hinter Marx, Ricardo und Adam Smith zurück. Auf das Cover „Le Capital au XXIe siècle“ zu schreiben, ist bloß Marketing und macht Piketty nicht zum neuen Marx. Worin dieses Werk „grandios“ ist, kann ich nicht erkennen.

Viele Daten, wenig Erkenntnis

Die viel gelobte Datenmenge erhellt nichts. Wir sind nicht einmal in der Lage, vernünftige Daten über die heutige Vermögensverteilung vorzulegen, wie die Kontroverse rund um die „Millionärssteuer“ zeigt, bei der mit Schätzungen operiert wird, die selbst auf Schätzungen auf der Basis anderer Schätzungen beruhen. Wir wissen ganz ohne Statistik, dass Bill Gates unermesslich (sic!) reich ist.

Aber spiegeln die dank künstlich erzeugter Geldflut haussierenden Börsen reale Werte? Wenn die Linke (mich eingeschlossen) argumentiert, es handle sich um eine Blase, dann ist auch der Vermögenszuwachs eine Blase, die jederzeit platzen kann. Was sind die circa 700 Billionen Dollar Finanzvermögen wirklich wert (bei einem globalen Bruttonationalprodukt von weniger als einem Zehntel dieses Betrages)? Wenn Piketty die Wachstumsraten von Christi Geburt (!) bis 2100 (!!) darstellt, legt man das Buch müde lächelnd beiseite (zum Wegschleudern ist dieses inhaltliche Leichtgewicht zu schwer).

Dass die Vermögen ungleich verteilt sind, weiß man auch ohne Piketty. Ein Spaziergang durch den Jachthafen von Monaco reicht für diese „Erkenntnis“. Dass das nichts Neues ist, kann man aus altrömischen Villenresten ebenso schließen wie aus mittelalterlichen Burgen und barocken Schlössern. Offensichtlich haben Mächtige es immer verstanden, Vermögen anzuhäufen. Aber der Versuch, eine einzige Formel über Sklavenhaltergesellschaft, Feudalismus und Kapitalismus zu stülpen, ist Unsinn.

Die Formel selbst ist trivial: Das Wachstum übersteigende Kapitalerträge führen zu Vermögenskonzentration. Die Frage technischer Innovationen wird ausgeblendet (das Vermögen von Gates entstand dank neuer Technologie). Kondratjews „Theorie der langen Wellen“ (1926) ist allemal erhellender. Ein zusätzliches Ärgernis: BRIC-Staaten, Dritte Welt, arabischer Raum – sie kommen bei Piketty nicht vor. Dass er auf Basis banaler „Beweise“ zu einer noch banaleren Schlussfolgerung kommt, überrascht nicht, macht aber den Erfolg des Buches aus: eine weltweite, progressive Vermögenssteuer für hohe Vermögen. (Jede Forderung mit „weltweit“ ist – Klimakonferenzen! – sinnlos.)

Das passt bestens zur unintelligenten „Millionärssteuer“, erspart das Nachdenken über kluge Lösungen. Zu neuen Erkenntnissen über den Kapitalismus kommt dieses sich selbst hochjubelnde Buch nicht.

Keine Schlüsse für Österreich

Brauchbare Schlüsse für Österreich sind nicht ableitbar. Die Besteuerung von ertragslosem Vermögen führt erst recht zur Vermögenskonzentration (wer die Steuer mangels Einkommen nicht zahlen kann, verkauft an die, die es sich leisten können), eine höhere Grundsteuer hat keine soziale Differenzierung. Die ungleiche Vermögensentwicklung hat mehr als nur einen Grund: starke Senkung der Spitzensteuersätze, Flat-Tax für Kapitalerträge, Lohndruck durch „Frei“handel zwischen ungleichen Systemen, Steuerflucht der Konzerne, Steuerwettbewerb in der EU und Gratiserbschaften. Besteuert werden müssen also Einkommens- und Vermögenszuflüsse, nicht statische Vermögen. Dazu braucht es keine weltweite Lösung und keinen Piketty.

Doch eine durchaus dramatische Frage stellt sich: Wie kann es sein, dass bei einer Staatsquote von fast 50 Prozent rundum Geld fehlt? Und wie kann es sein, dass – während Sie diesen Artikel gelesen haben – in einer summarisch reichen Welt ungefähr 250 Kinder unter sechs Jahren an den Folgen von Armut gestorben sind? Vergesst Piketty!

E-Mails an: debatte@diepresse.com

DER AUTOR




Michael Amon
lebt als Autor in Wien und Gmunden. Der Romancier und Essayist ist außerdem geschäftsführender Gesellschafter einer kleinen Steuerberatungskanzlei.

Ende Juli erscheint „Nachruf verpflichtet“ als Band drei der „Wiener Bibliothek der Vergeblichkeiten“ im Echomedia-Buchverlag. [ Privat ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.07.2014)

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