Sprachliche Vielfalt − schulische Einfalt

Es ist bereits überfällig, das österreichische Schulsystem an die Mehrsprachigkeit unserer Gesellschaft anzupassen.

Vor Kurzem wurde der Integrationsbericht 2014 mit Empfehlungen für die bessere Förderung von Schülerinnen und Schülern mit nicht deutscher Erstsprache vorgestellt. Dort ist von „Vorbereitungsklassen“ die Rede, die eingerichtet werden sollen, „wenn eine entsprechende Nachfrage in einem schulischen Einzugsbereich vorhanden ist“, vor allem für sogenannte Quereinsteiger, die während des Schuljahres nach Österreich kommen.

Die seither stattfindende erbitterte Diskussion über eigene „Ausländerklassen“ verläuft exakt entlang der politischen Rechts/Links- Demarkationslinie.

FPÖ-Chef H.-C. Strache und seinesgleichen forderten eigene Ausländerklassen und die Begrenzung des sogenannten Ausländeranteils pro Klasse. Sie fanden damit die Zustimmung der einschlägigen Foren. Allerdings: Man stelle sich vor, Herr Strache müsste etwa ins geliebte Serbien emigrieren, seine Kinder wären dort in eine Ausländerklasse gesperrt und müssten dort ohne zusätzliche Hilfe dem Unterricht folgen und gleichzeitig Serbisch mit kyrillischer Schrift lernen. Wie wäre da wohl seine Reaktion? Dass Straches Forderung nach eigenen „Ausländerklassen“ pädagogisch abwegig ist und dahinter eine Diskriminierungsabsicht steht, muss nicht extra betont werden.

Das Schulsystem versagt

Auf der Gegenseite lehnten verschiedene Linguistinnen und Linguisten sowie die Grünen das Ansinnen eigener Vorbereitungsklassen strikt ab. Sie sprechen von Segregation, die schädlich und kontraproduktiv sei, weil die Kinder ausgeschlossen würden und man Deutsch besser im Rahmen einer integrativen Lernsituation mit anderen deutschsprachigen Kindern lernen würde. Ihre Ablehnung der Vorbereitungsklassen ist ebenso abwegig, wenn man die schlechten schulischen Ergebnisse der Schüler mit nicht deutscher Erstsprache betrachtet. Die PISA-Tests zeigten, dass 60 Prozent der türkischen und 29Prozent der exjugoslawischen Schülerinnen und Schüler der Abschlussklasse der Pflichtschule beim Lesen der Risikogruppe angehörten.

Elf Prozent der in Österreich geborenen männlichen und 15Prozent der weiblichen Zuwanderer verlassen die Pflichtschule ohne einen Abschluss und sind ohne Beschäftigung. Das ist eindeutig nicht die Schuld der Schüler, sondern des österreichischen Schulsystems, dem es im Gegensatz zu anderen Ländern nicht gelungen ist, entsprechende Lernbedingungen zu schaffen, um den Kindern von Zuwanderern einen wenigstens durchschnittlichen Schulerfolg zu ermöglichen.

Es gibt in Österreich keinen Rechtsanspruch auf Deutschförderung. Das heißt, dass es im Wesentlichen vom guten Willen der jeweiligen Direktion und vom Engagement der Lehrerschaft der jeweiligen Schule abhängt, ob und wie viel die Schüler nicht deutscher Erstsprache zusätzlichen Sprachunterricht in Deutsch bekommen.

Wie die schlechten Ergebnisse im Rahmen der Bildungsstandardtests zeigen, ist das seit Anfang der 1990er-Jahre praktizierte Immersionsmodell, das von Grünen und Teilen der SPÖ vehement verteidigt wird, ebenso gescheitert. Die sprachliche Integration soll dabei auf der Basis von Immersion erfolgen. Schüler nicht deutscher Erstsprache sollen also in der Stammklasse mit den deutschsprachigen Schülern zusammen sein, mit und von diesen Deutsch lernen.

Das ist aber nur möglich, wenn höchstens ein Fünftel der Volksschulklasse Schüler nicht deutscher Erstsprache sind, da die jeweilige Lehrperson sonst hoffnungslos überfordert ist und zu wenig sprachlicher Input in der Zielsprache Deutsch erfolgt. Das an sich gut gemeinte Modell wurde durch die hohe Anzahl von Schülern nicht deutscher Erstsprache in städtischen Ballungszentren ins Gegenteil verkehrt.

Die richtigen Fragen stellen

In Wien gibt es sechs Stadtbezirke mit einem durchschnittlichen Anteil an Schülern nicht deutscher Erstsprache an Volksschulen von 61,2 bis 81,4 Prozent und 21 Volksschulen ohne deutschsprachige Schüler. Der Anteil von Schülern nicht deutscher Erstsprache beträgt in Wien in der Volksschule 50,6, in der Hauptschule 60,9, in der AHS-Unterstufe 40 Prozent.

Ähnlich ist die Situation in den Volksschulen anderer Städte – Wels: 48, Linz: 38, Stadt Salzburg: 36, St.Pölten: 30, Dornbirn: 29, Graz: 20, Innsbruck: 27 Prozent. Die derzeitige Situation hat also vielfach genau jene „Ausländerklassen“ geschaffen, die man mit dem Immersionsmodell vermeiden wollte.

Fest steht: So kann es nicht weitergehen! Was also ist zu tun? Zuerst einmal gilt es, die richtigen Fragen zu stellen. Diese lauten: Welches Integrationsmodell ist für Schüler nicht deutscher Erstsprache angemessen und führt dazu, dass die Kinder von Zuwanderern in österreichischen Schulen denselben Schulerfolg wie die deutschsprachigen erreichen? Die konventionelle Antwort lautet: Diese Schüler müssen gut Deutsch lernen, damit sie in der Schule mitkommen. Das ist auch der Tenor des Integrationsberichts 2014.

Bereits 20 Prozent Zuwanderer

Die Antwort ist nicht falsch, sie ist aber verkürzt. Richtiger wäre es zu sagen, dass sich Österreichs Schulsystem an die Tatsache anpassen muss, dass bereits 20 Prozent der Gesamtbevölkerung Zuwanderer und daher mehrsprachig sind und sich daraus geänderte schulische Anforderungen ergeben.

Die österreichische Schule agiert aber so, als ob es dieses Faktum nicht gäbe. Sie ist nach wie vor eine monolinguale Schule, die nur auf Deutsch ausgerichtet ist. Aus der jetzigen massiven Zuwanderungssituation ergibt sich jedoch zwingend, dass die Einrichtung zweisprachiger Schulen (oder zumindest einzelner Schulklassen) für die wichtigsten Zuwanderersprachen ein Gebot der Stunde und dies die einzige Möglichkeit ist, dass gute Deutschkenntnisse erworben werden und die Zuwanderersprachen erhalten bleiben.

Zugleich wird deutschsprachigen Schülern das Erlernen einer zweiten Sprache im Rahmen des Regelschulunterrichts ermöglicht. Weiters können diese Schulen als Erstaufnahmezentren für die jeweilige Herkunftssprache wirken.

Ein solches Schulsystem existiert bereits in Lettland, wo es elf anerkannte Sprachminderheiten und entsprechende zweisprachige Schulen gibt. Sie haben dazu geführt, dass Lettland unter den Ländern mit den besten PISA-Ergebnissen rangiert.

Die größten Opfer

In einem solchen System spricht auch nichts gegen Vorbereitungskurse von Schülern ab der dritten Volksschulklasse und erst recht für Schüler ab der fünften Schulstufe, wenn diese im Rahmen einer mehrsprachigen Schule von mehrsprachigen Lehrern durchgeführt werden. Das gilt besonders für Quereinsteiger. Sie sind die größten Opfer des derzeitigen Immersionsmodells, da sie ohne Deutschkenntnisse die Unterrichtszeit des ersten Schuljahrs meist sinnlos absitzen.

Die erfolgreiche Integration von Schülern mit nicht deutschsprachiger Erstsprache kann durch die Anpassung des Schulsystems an die Mehrsprachigkeit unserer Gesellschaft erreicht werden, nicht jedoch durch die Anpassung dieser Schüler an die monolingual ausgerichtete österreichische Schule.

DER AUTOR

E-Mails an:debatte@diepresse.com


Rudolf Muhr (*1950) ist Professor an der Karl-Franzens-Universität Graz und Leiter der dortigen Forschungsstelle Österreichisches Deutsch, Gründer des Universitätslehrgangs Deutsch als Fremdsprache an der Uni Graz. [ Privat ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.08.2014)

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