Vernichtungsschlag gegen die Vielfalt des Nahen Ostens

Gastkommentar. Die IS-Terroristen versuchen gerade, die Welt des Yezidentums auszulöschen.

Morgens, bei Sonnenaufgang, drehten wir uns in Richtung Sonne und beteten“, begann meine Mutter immer, wenn sie von den Gebetsritualen in ihrem kurdischen Dorf erzählte. Ein von sunnitischen Kurden bewohntes Dorf, mitten in Nordkurdistan, hoch in den Bergen. Ein Dorf, in dem alte Menschen fünfmal am Tag ihren islamischen Pflichten nachkamen.

Einige schwören heute noch auf „Mishefa Res“ („Das schwarze Buch“), das von den Yeziden verloren geglaubte heilige Buch, in dem die yezidische Glaubensvorstellung näher beschrieben wird. Die yezidischen Rituale und Traditionen sind unter muslimischen Kurden nach wie vor präsent und sie praktizieren sie, ohne sich deren eigentlicher Widersprüchlichkeit zum Islam bewusst zu sein. Die Verehrung der Natur und von Schlangen, die wichtige Rolle der Zahl Sieben und vieles andere gehen nämlich auf yezidische Mythen zurück.

Die Beziehung zwischen muslimischen und yezidischen Kurden war jedoch oft angespannt. Enttäuscht erzählte mir ein yezidischer Scheich unlängst, wie sunnitische und alevitische Kurden 1915 das Dorf seiner Großeltern plünderten, nachdem es von Osmanen zerstört worden war und die Dorfbewohner flüchten mussten.

Achtung und Verehrung

Den angeblichen „Teufelsanbetern“ wurde im Zuge des kurdischen Befreiungskampfs eine wichtige Rolle zugesprochen: Um die kurdische Identität zu stärken, wurde das Yezidentum zur Ursprungsreligion der Kurden erklärt. Hierauf erfuhren die Yeziden große Achtung und Verehrung als jene, die trotz aller Verfolgung und Unterdrückung nach wie vor ihre Religion in ihrer Muttersprache – also Kurdisch – ausübten. Nicht wenige bekannten sich vor dem Hintergrund ihrer kurdischen Wurzeln zum Yezidentum, obgleich eine Konvertierung zum Yezidentum gar nicht möglich ist.

Bis vor einem Jahr kannte ich keinen Yeziden persönlich. Nichtsdestoweniger nahmen Yeziden stets eine wichtige Rolle in meinem Leben wie im Leben vieler Kurden ein. Wir, die in der urbanen Welt aufgewachsenen und assimilierten Kurden mit großer Identitätskrise, bewunderten unsere yezidischen Schwestern und Brüder, die im „Osten“ lebten.

Die, die aus dem „Osten“ kamen

Damals war ja der Gebrauch des Wortes „Kurde“ und dergleichen verboten, stattdessen wurde das Wort „Osten“ als Synonym für Kurden und Kurdistan benutzt. So wurde diese Religion zu einem der Fragmente unserer selbst gebastelten Identität.

Yeziden, die ich in Wien treffe, erinnern mich an meine Kindheit. Unsere kleine Wohnung in der Altstadt von Istanbul war eine beliebte Anlaufstelle für die Verwandten aus dem „Osten“. Sie brachten ein wenig kurdische Atmosphäre in unsere Diaspora in Istanbul.

Die Art, wie mich meine yezidischen Freunde in Wien in ihren Wohnungen begrüßen und bewirten, ihr Kleidungsstil, ihre Gestik und ihre Sprache – all das erinnert mich an die kurdischen Augenblicke meiner Kindheit.

Die Kinder des Engels Pfau, die in ihrer Religionsphilosophie allen anderen Glaubensrichtungen mit Respekt und Toleranz begegnen, die in ihren täglichen Gebeten Gott bitten, „zuerst die 72 Nationen der Welt zu schützen, dann sich selbst“, werden heute in ihrer Heimat in Sengal vom gesichtslosen Feind IS willkürlich massakriert. Die Gräueltaten der IS-Terroristen nehmen das Ausmaß eines Völkermords an. Sie vernichten nicht nur die Yeziden, sondern die ganze Vielfalt des Nahen Ostens. Meine Schwestern und Brüder sterben heute im Osten meines Herzens!

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.08.2014)

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