Schubumkehr in der europäischen Integration

Unsere Eliten werden sich entscheiden müssen: Für Neoliberalismus oder Sozialstaatlichkeit, für Nationalismus und Rechtspopulismus oder für nationale und europäische Identitäten sowie echte Integration.

Seit Anfang der 1990er-Jahre orientieren sich die europäischen Eliten zunehmend am neoliberalen Weltbild: Individueller Eigennutz und Marktkonkurrenz schaffen das ökonomisch Beste, Sozialstaatlichkeit schwächt die Leistungsanreize, die Politik hat sich „dem Markt“ anzupassen und ist an Regeln zu binden (Fiskalpakt, EZB-Statut), die Staatsquote muss runter. Aus vier Gründen unterminiert diese Navigationskarte den Prozess der europäischen Integration, eine „Schubumkehr“ droht.
•Erstens: Diese Politik dämpft das Wirtschaftswachstum. Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung steigen immer mehr, gleichzeitig vertieft sich die Nord-Süd-Spaltung Europas. Zwar hat die neoliberal-finanzkapitalistische Spielanordnung auch die US-Wirtschaft beeinträchtigt, doch wird dies mit einer primitiv-keynesianischen Geld- und Finanzpolitik teilweise ausgeglichen.

Aufschwung als Fata Morgana

Fazit: Die Krisen entstehen in den USA, erfassen dann Europa und werden hier durch neoliberale Politik vertieft. Seit 25 Jahren wächst die Wirtschaft in den USA daher rascher als in der EU (erstmals seit 1945), besonders markant seit Ausbruch der Finanzkrise: Spekulation auf den Bankrott von Mitgliedstaaten begrüßen die EU-Eliten als „Disziplinierung durch den Markt“, die so verschärfte Krise beantworten sie mit Troika-Sparpolitik, diese treibt Südeuropa in die Depression.

Arbeitslosigkeit wird mit Senkung von Löhnen und der Unterstützungszahlungen bekämpft, der Konsum bricht ein, und sie steigt immer mehr. Nichts dergleichen praktizieren die USA, die Unterstützung der Arbeitslosen wurde sogar massiv ausgeweitet.

Folge: Der wiederholt prognostizierte Aufschwung in der EU erweist sich als Fata Morgana, das Bruttoinlandsprodukt verharrt auf dem Niveau von 2008 (in den USA liegt es zehn Prozent darüber), eine neuerliche Rezession ist möglich. Wenn die Aktienkurse wieder fallen, wird sie zur Gewissheit.
•Zweitens: Die jetzige Politik vertieft die Spaltung innerhalb der EU. Immer mehr Deklassierte in Südeuropa sehen in Bundeskanzlerin Angela Merkel, im deutschen „Spardiktat“ oder „den Deutschen“ neue Feindbilder. Umgekehrt bedienen „volksdümmliche“ Politiker in Deutschland durch abfällige Bemerkungen über „die Griechen“ die Ressentiments „ihrer“ Deklassierten (etwa sieben Millionen Deutsche leben unter der Armutsgrenze). In Griechenland oder Italien werden Erinnerungen an die Verbrechen von Deutschen vor 70Jahren wach: Die Gespenster der Vergangenheit regen sich wieder.

Dies ist der zweite Grund, warum die neoliberale Navigationskarte die EU in einen Prozess der Desintegration führt.

Rückenwind für die Rechten

•Drittens: Die Politik der EU macht es den rechtspopulistischen Parteien leicht, sich als Anwalt der fleißigen, kleinen Leute zu profilieren. Europa steht für das Unsoziale, ihr Nationalismus aber ist sozial. Angesichts der wachsenden Zahl von – insbesondere jungen – Arbeitslosen, prekär Beschäftigten, von Armut Bedrohten brauchen die Le Pens, Straches und Co. nur nationale, soziale und antifinanzkapitalistische Phrasen dreschen – und ihr Stimmenanteil steigt und steigt.
•Viertens: Die EU selbst hat das europäische Projekt ihren Bürgern entfremdet. Die neoliberale Weltanschauung widerspricht den sozialen Grundwerten des europäischen Gesellschaftsmodells. Überdies liegen die ökonomischen Stärken (Kontinental-)Europas in der Realwirtschaft, während in den USA (und in Großbritannien) der Finanzsektor traditionell eine größere Rolle spielt.

Über Jahrhunderte haben in Europa das Eingebundensein in Verbände (Gemeinden, Zünfte, Gewerkschaften etc.) und das Ziel, individuelle und soziale Freiheit zu integrieren („Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“), die Entwicklung der Gesellschaft geprägt. In den USA als einem Land der Eroberer hat umgekehrt das individuelle Glücksstreben („pursuit of happiness“) höchsten Stellenwert. Arbeitnehmerparteien oder Gewerkschaften konnten sich nicht entwickeln, der Sozialstaat ist nur rudimentär ausgeprägt.

Befragt, worauf sie in Europa stolz sind, nennen die Bürger regelmäßig das sozialstaatliche Gesundheitssystem, das öffentliche Bildungswesen und die Systeme der sozialen Sicherheit. Mit Übernahme der neoliberalen Leitlinien unterminiert die EU selbst das europäische Sozialmodell.

Dazugehören und Abgrenzen

Für den europäischen (Des-)Integrationsprozess ist das Verhältnis von nationalen und europäischen Identitäten von fundamentaler Bedeutung. Identitäten entwickeln sich in Wechselwirkung zwischen Dazugehören und Abgrenzen.

So besteht die Österreicheridentität einerseits in einem Gefühl des Hier-beheimatet-Seins, kann aber andererseits auch durch die Abgrenzung gegenüber Italienern oder Deutschen gestärkt werden. Je stärker die positive Komponente der Identität im Vergleich zur negativen ist, desto eher werden nationale und europäische Identitäten als kohärent empfunden.

Die jeweilige Ausprägung der „Identitätshierarchie“ prägte die europäische Geschichte. Zwischen 1848 und 1945 wurden die nationalen Identitäten immer stärker durch die Abgrenzung von anderen Nationen genährt, „Erbfeindschaften“ stärkten das Nationalbewusstsein mehr als der Stolz auf die eigene Kultur.

Diese negativen Identitäten stauten Emotionen auf, die sich in zwei Weltkriegen entluden. Das Lernen aus diesen Katastrophen führte nach 1945 zum Prozess der europäischen Integration.

Das europäische Sozialmodell

Aus dem Zusammenwirken des Integrationsprozesses, der realkapitalistischen Rahmenbedingungen, des Ausbaus des Sozialstaats und der Sozialpartnerschaft entwickelte sich das europäische Sozialmodell. Es wurde zur Grundlage für das – zaghafte – Entstehen einer europäischen Identität. Sie wurde aber durch den Übergang zur einer neoliberal-finanzkapitalistischen Spielanordnung immer mehr beschädigt.

Die Einbettung der nationalen Identitäten in eine gemeinsame europäische Identität wird erst gelingen, wenn die Politik die Stärken des europäischen Gesellschaftsmodells fördert.

Diese Stärken liegen nicht in der Finanz-Alchemie, sondern in (innovativen) Aktivitäten in der Realwirtschaft. Sie liegen nicht im „Jeder ist seines Glückes Schmied“, sondern im Streben nach einer Balance zwischen individueller Entfaltung und sozialem Zusammenhalt. Sie liegen weiters nicht in einer prinzipiellen Staatsfeindlichkeit, sondern in der Kombination von Konkurrenz auf Gütermärkten mit Kooperation auf der Ebene der Politik – durch den Staat und die EU als „unsere Vereine“.

Neoliberalismus, Nationalismus, Rechtspopulismus oder Sozialstaatlichkeit, nationale und europäische Identitäten, Integration: Unsere Eliten werden sich entscheiden müssen. Ein vereintes, neoliberales Europa wird es nicht geben.

E-Mails an:debatte@diepresse.com

DER AUTOR



Stephan Schulmeister
(*26.8.1947) studierte Rechts- und Wirtschaftswissenschaften an der Uni Wien. Er war von 1972 bis 2012 wissenschaftlicher Mitarbeiter im österreichischen Wirtschaftsforschungsinstitut (Wifo). Forschungsaufenthalte am Bologna Center der John Hopkins University, an der New York University, am Wissenschaftszentrum Berlin. [ Fabry ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.08.2014)

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