Die falschen „Vertreter“

Eine deutsche Islamwissenschaftlerin hätte in Österreich sprechen sollen – auf Druck der Islamischen Glaubensgemeinschaft wurde sie ausgeladen (s. S. 20). Was Schirrmacher nicht sagen durfte: Auszüge aus dem Vortrag.

Niemals zuvor haben so viele Menschen aus dem islamischen Kulturkreis dauerhaft in Europa gelebt. Weder die Zuwanderer noch die Aufnahmeländer haben ursprünglich mit einem dauerhaften Zusammenleben gerechnet. Besonders die Mehrheitsgesellschaft hat sich zu wenig mit den Herkunftskulturen der Zuwanderer beschäftigt. Die „andere Kultur“ wurde entweder kritiklos bewundert oder ignoriert und abgelehnt. Mitmenschliche Begegnungen fanden viel zu wenig statt. Das Wissen über den Islam ist in Europa bei vielen Menschen immer noch gering. Manche Muslime wollten „Europäer“ werden, haben sich dann aber enttäuscht abgewandt. Manche fanden Anschluss an eine Moschee, die Distanz und Rückzug predigt, den heimischen Nationalismus und den Islam als Identität in einer „gottlosen“ westlichen Gesellschaft als Alternative anpreist. Dann kann es bis zur Hinwendung zum politischen Islam (Islamismus) oder sogar zum Extremismus.

Neu ist die Situation nicht nur für die europäischen, sondern auch für die muslimischen Gemeinschaften. Viele Fragen kommen auf: Kann auf den lautsprecherverstärkten Gebetsruf – in islamischen Ländern eine Alltäglichkeit – in nicht-islamischen Ländern verzichtet werden? Darf von Nichtmuslimen geschlachtetes (nicht geschächtetes) Fleisch von Muslimen verzehrt werden (eine Situation, die in islamischen Ländern kaum je auftritt)? Wie sind die islamisch begründeten Anstandsregeln in einer freiheitlich-pluralistischen Gesellschaft einzuhalten, in der sich nur noch wenige Menschen zu religiösen Werten bekennen? Darf der eigene Sohn eine deutsche, nichtmuslimische Frau heiraten, die die Familie als „Ungläubige“ beurteilt?

Aber auch jenseits des Alltags ergeben sich in Bezug auf die Religion Fragen: Wie kann der islamische Glaube an die junge Generation weitergegeben werden, die inmitten einer pluralistischen, säkularisierten Gesellschaft lebt? Manche Familien beginnen im Wunsch, ihre kulturellen Wurzeln zu bewahren, erstmals in der Diaspora, ihre Religion zu praktizieren, andere beachten die Vorschriften strenger als im Herkunftsland. Dadurch wird besonders im türkischen Islam in Deutschland eine konservative Religiösität „konserviert“, die es in dieser Form in der modernen Westtürkei kaum noch gibt.

Und wie verhält sich die Mehrheit?

Und wie verhält sich die westliche Mehrheitsgesellschaft? Versteht sie das hohe Minarett, das vielleicht alle anderen Bauten des Stadtteils überragt, als kulturelle Bereicherung oder als Bedrohung? Oder vielleicht in früheren Jahren als Bereicherung, heute aber eher als Bedrohung? Glaubt sie den friedlichen Bekundungen des Moscheevereins in der Nachbarschaft, und bemüht sich der Moscheeverein um gute Kontakte zu den Nachbarn? Beten dort Menschen, die nur ihren Glauben praktizieren und zum Frieden in der Gesellschaft beitragen wollen, oder werden dort politische Predigten gehalten? Wird das Kopftuch als individuelles Glaubensbekenntnis getragen oder als politisches Symbol? Wünschen sich die europäischen Gesellschaften überhaupt ein Miteinander mit den Zuwanderern, möchten sich alle Zuwanderer in die europäischen Gesellschaften integrieren? Wie weit reichen Toleranz und Freiheit der demokratischen Gesellschaften, und wo beginnt die Gleichgültigkeit und die Ablehnung?

Das lange Nebeneinander muss ein Miteinander werden. Die europäischen Gesellschaften müssen bereit sein, Zuwanderern Heimat und Annahme zu geben, die Zuwanderer müssen bereit sein, sich von einem politisierten Islamverständnis zu lösen und die hiesigen Gesetze nicht nur zu halten, sondern die europäischen Demokratien als gut und richtig zu bejahen.

Zu lange ging man davon aus, dass sich extremistische Bestrebungen auf landesinterne Konflikte wie Algerien, Palästina oder den Iran beschränkten. Heute hat sich diese Sicht grundlegend gewandelt, und zu Recht. Unter der logistischen und finanziellen Unterstützung aus dem Nahen und Mittleren Osten ist Europa zum Rückzugs- und auch Aktionsraum für extremistische Gruppierungen geworden. Manche Moscheen und islamischen Zentren wurden zu Rekrutierungsorten für Extremisten. Der internationale islamistische Terrorismus ist Bestandteil der europäischen Wirklichkeit geworden. Das Internet macht dabei Reisen in Ausbildungscamps wie auch persönliche Rekrutierungen mehr und mehr unnötig.

Islamistischer Druck auf Muslime wächst

Allerdings geht es beim politischen Islam nicht nur um Gewalt und Terror. Der gewaltbereite Extremismus ist nur ein zahlenmäßig kleiner Flügel. Zum politischen Islam rechnet man auch jenen Bereich des Islamismus, der seine Ziele mit rechtsstaatlichen Mitteln, mit Strategie, zum Teil aus dem Ausland stammenden Finanzquellen und gut geschultem Personal verfolgt. Der politisch motivierte Islam übt seinen Einfluss über Moscheevereine und Dachorganisationen aus. Er erklärt sich als organisierter Islam zum Sprachrohr „der“ Muslime in Europa. Da die muslimische Gemeinschaft keine den Kirchen vergleichbare Mitgliedschaft noch Hierarchie kennt, ernennt sich der organisierte Islam selbst zum Dialogpartner für die Kirche und zum Ansprechpartner für den Staat, obwohl eine Mehrheit von mindestens 90 Prozent aller Muslime nicht von einer dieser Organisationen vertreten werden möchte. Insgesamt gehören in Deutschland nur fünf bis höchstens zehn Prozent aller Muslime einer dieser Organisationen an.

Vorrangiges Ziel ist die gleichberechtigte Anerkennung des Islam in Europa, die Bekanntmachung und Durchdringung der westlichen Gesellschaft mit islamischen Werten sowie die Vereinnahmung der muslimischen Gemeinschaft für eine bestimmte Interpretation des Islam. Der zweite Schritt ist der aktive Einsatz für die Werte der Scharia, die Unterbindung jeglicher Kritik an islamischen Werten und schließlich die Proklamierung der Scharia, der islamischen Ordnung, zunächst über die muslimische Gemeinschaft. Zudem aber wirkt der politisch organisierte Islam auch in die muslimische Gemeinschaft hinein in dem Wunsch, Muslime zum Einhalten einer strikten Form des Islam in Europa anzuhalten. Erteilen Lehrerinnen des organisierten Islam an öffentlichen Schulen Religionsunterricht mit Kopftuch und vermitteln sie ihre traditionelle, die Frau rechtlich benachteiligende Rolle, wird der Druck größer, dass auch Schülerinnen vermehrt und früher Kopftücher tragen und einem schariazentrierten, nicht aufgeklärten Islam bis in die Elternhäuser Vorschub geleistet wird.

Bedenklich stimmt, dass manche islamischen Organisationen schon heute in Europa darauf drängen, dass nichts „Negatives“ mehr über den Islam veröffentlicht werden dürfe, da dies Diskriminierung bedeute – mit anderen Worten: Alles, was nicht aus muslimischer Sicht geschrieben wurde, ist zu unterbinden (eine Entwicklung, die z. B. in Großbritannien weitaus mehr fortgeschritten ist). Hier wird es wesentlich darauf ankommen, wie „wach“ die westliche Gesellschaft diese Entwicklung verfolgt und in welchem Maß sie bereit ist, ihre mühsam erkämpfte Presse- und Meinungsfreiheit zu verteidigen.

Die Mehrzahl der Muslime, die in Europa unpolitisch denkt und lebt und sich große Sorgen macht um die Rechte, die islamistische Gruppen Stück für Stück einfordern, erwarten eine Antwort vom Staat. Es darf keinen doppelten Rechtsstandard geben. Denn nur eine Verständigung auf eine gemeinsame Rechts- und Werteordnung wird den Erhalt unseres Staates auf Dauer garantieren können. Es lohnt sich, für ein echtes Miteinander einzustehen, das uns in Europa aber bei teilweise divergierenden Werteordnungen nicht in den Schoß fallen wird.

Migranten zur Heimat verhelfen

Gleichzeitig muss alles dafür getan werden, dass die Migranten in Europa dauerhaft Heimat finden. Viel zu viele sehen sich entwurzelt, weder in dem Herkunftsland ihrer Eltern und Großeltern noch in ihrer neuen „Heimat“ zu Hause. Migranten fühlen sich ausgegrenzt und benachteiligt, diskriminiert und verachtet – teilweise beruht dieses Empfinden auf eigenen Erfahrungen mit Benachteiligungen, teilweise auf einer stellvertretend für die weltweite muslimische Gemeinschaft empfundenen Zurücksetzung, teilweise liegt die berufliche Perspektivlosigkeit aufgrund von geringer Schulbildung sehr nahe. Politische und wirtschaftliche Programme sind wichtig, damit mehr Migranten in Europa auch wirtschaftlich Fuß fassen können – aber auch abgesehen von dieser gesellschaftspolitischen Ebene müssen Muslime und Nichtmuslime stärker aufeinander zugehen, um im Europa des 21. Jahrhunderts nicht mehr nur nebeneinander, sondern miteinander zu leben.
Den gesamten Text des Vortrags lesen Sie auf www.diepresse.com/schirrmacher.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.05.2008)

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