Wenn jemand abfährt, aber niemandem abgeht

Spindelegger und Welser-Möst – die erste Frage der Zeitung lautet, was nach ihnen kommt, und nicht, wie sie sich fühlen.

Man könnte den Rücktritt des ÖVP-Chefs Michael Spindelegger als großes persönliches Drama inszenieren. Shakespeare hätte es so gemacht. „Die Presse“ wählt unter dem nüchternen Aufmachertitel „Mitterlehner übernimmt die ÖVP“ die praktischere Route (27.8.). Auf sechs Druckseiten analysiert sie das Elend der zweiten Regierungspartei. Das ist ein Bildungsangebot.

Die Fotoleiste aller 15 verflossenen ÖVP-Chefs kann man als Memento mori für eine ehemals staatstragende Partei deuten. Von ihrem Höchststand von 49,8 Prozent der Stimmen im Jahr 1945 glitt die ÖVP planmäßig zu ihrem Tiefststand von 23,99 Prozent bei der Nationalratswahl 2013 ab.

Im Kommentar erschallt der Ruf, die Partei „völlig neu aufzustellen“. Das geschieht sowieso nicht, sodass die eigentliche Abrechnung mit dem politischen System bis zu dem Tag heranreifen darf, an dem auch der neue Finanzminister gefunden und die Regierung umgebildet ist: Bundeskanzler Werner Faymann und sein Gegenüber, Reinhold Mitterlehner, sollten im sicheren Wissen, dass ihre gemeinsame Mehrheit schon weg ist, wenigstens gutmachen, was in der Vergangenheit zerstört wurde – „das Vertrauen in die Politik“ (30.8.). So lautet der Kommentar des Chefredakteurs. Das ist nicht gehässig, sondern richtig.

Noch einer ist zurückgetreten – der Generalmusikdirektor der Wiener Staatsoper, Franz Welser-Möst. Auf Seite 1 klingt das schlimmer, als es ist: Er „will auch nicht mehr dirigieren“, steht dort, eine arge journalistische Übertreibung. Dirigieren will er jetzt erst recht und so wie er will, bloß nicht in der Wiener Oper. Warum genau, das lässt sich auch in der tiefschürfenden Analyse „Ein Meyer ohne Maestro“ (6.9.) nicht restlos klären. Aber der Standpunkt der „Presse“ ist klar: „Reisende soll man ziehen lassen“, stellt die Zeitung fest und sagt gleich dreimal, dass die Staatsoper über lange Jahre ohne Generalmusikdirektor ausgekommen sei.

Dazu sind ja Musikkritiker da, dass sie ihre langjährigen Erfahrungen zur dezidierten Meinung formen, die übersetzt lautet: Wien geigt ohne Welser-Möst weiter.

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Egal, um welche Größen es sich handelt – politische Prophezeiungen gehen meist daneben. Die EU-Kommission wolle mit der Staubsaugerverordnung „19 Terrawattstunden jährlich einsparen“ (30.8.). Erstens schreibt man die Terawattstunde (ist gleich eine Milliarde Kilowattstunden) mit nur einem r. Zweitens wird die Rechnung durch den schwammigen Zusatz, „das entspricht der Produktion von vier Atomkraftwerken“, auch nicht verständlicher.

Ein Artikel über die Ukraine beginnt hoffnungsvoll, hätte sich aber das erste Wort ersparen können: „Mit gestern Nachmittag trat eine Waffenruhe in der Ostukraine in Kraft.“ (6.9.) Welche Funktion hat das unglückliche „mit“? Keine.

Die angestrengte Genderbewegung ist voller Tücken. Nach dem Tod von Frank Schirrmacher könnte „erstmals eine Frau Herausgeberin der FAZ“ werden (10.9.). Nur so kann es sein, denn ein Mann wird nie Herausgeberin werden.

In derselben Ausgabe bringt ein Demonstrativpronomen Tierarten durcheinander: „Im Golf von Thailand jagen ein Brydewal und Möwen Sardellen. Diese Walart (?) lebt ganzjährig in gemäßigten und tropischen Gewässern.“ Das weiß ja jeder, Sardellen sind Wale, vielleicht sogar Walfische.

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Die Leopoldstadt, Wiens zweiter Bezirk, ist Opfer eines journalistischen Raubanschlags. Wenn die in Wien doch gut verankerte „Presse“ die Leopoldstadt erwähnt, vergisst sie gern deren Artikel. Beispiel: „Hidaya-Moschee in Leopoldstadt“ (2.9.). Das ist eine heikle Sache, die zu erörtern sich lohnt.

Die Leopoldstadt hat das gleiche Recht wie die Josefstadt (achter Bezirk). Niemand fährt nach Josefstadt, schon gar niemand geht in das „Theater in Josefstadt“ – immer wird der Artikel mitgesprochen, so wie man ja auch immer in die Schweiz fährt, nicht nach Schweiz und auch nicht nach Türkei. Weibliche Länder-, Orts- und Landschaftsnamen sind gegenüber den sächlichen in der Minderheit und vielleicht darum anspruchsvoller.

Die Grammatikexperten sprechen von einem „primären Artikelgebrauch“, aber die Sprache braucht ihre Eigenheiten gar nicht zu begründen. Wer es dennoch genauer wissen will, wird nach Stimulierung seiner rechten Gehirnhälfte einen gefühlsmäßigen Unterschied zwischen „Ich wohne in Eisenstadt“ und „Ich wohne in der Leopoldstadt“ spüren. Eisenstadt ist ein Wohnort für den Meldezettel, die Leopoldstadt scheint zusätzlich die Geborgenheit eines Vogelnestes anzubieten.

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Wird Italiens Außenministerin, Federica Mogherini, „aller Vorbehalte zum Trotz EU-Außenbeauftragte?“ (28.8.). Inzwischen ist sie es schon, aber hoffentlich „allen Vorbehalten zum Trotz“.

Das Magazin „Stern“ wechselt den Chefredakteur aus. „Statt ihm kommt der 48-jährige Christian Krug.“ (16.8.). Er kommt statt seiner. Die OMV-Quartalsausfälle wurden „negativ beeinträchtigt“ (1.9.). Wie würden sie positiv beeinträchtigt?

Wenn sich Journalisten in eine Sache eingearbeitet haben, schreiben sie gern „bekanntlich“ dazu und beschämen indirekt Leser, die es nicht wissen. Oder war Ihnen Folgendes schon immer so klar: „Unter den russischen Kämpfern, die aufseiten der ukrainischen Separatisten kämpfen, befinden sich nämlich bekanntlich Kadyrow-Leute.“ (6.9.)

Das Sportressort, in dem exzellente Fachleute tätig sind, handhabt das Wissensgebot anders. In dem langen Bericht „Der Weltmeister tritt die EM-Reise an“ kommt das Wort Fußball kein einziges Mal vor, auch kein Fußballer, offenbar weil es sich sowieso um nichts als Fußball handeln kann (7.9.). Darauf machen ja die Kürzel WM und DFB sowie (ganz verräterisch) „Weltmeister Deutschland“ aufmerksam. Wer das nicht sofort überzieht, bekommt die rote Leserkarte und verlässt das Feld.

Wenn der Dokumentarfilm so großartig ist wie der Artikel „Glanz und Motten im Kunsthistorischen“, dann hätte die Autorin auch einen kurzen Hinweis spenden sollen, wo und ab wann der Film zu sehen ist (4.9.). Übrigens, „betroppezt“, ein schönes Wort aus dem Jiddischen im Schatz der Wiener Umgangssprache, kommt ohne tz aus.

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Das „Gespräch zum Siebziger“ mit Peter Turrini ist sehr interessant (9.9.), wirft aber die quälende Frage auf, ob „Die Presse“ auf den Interviewtermin vielleicht drei Jahre gewartet und mit einem 73-Jährigen geredet hat, ohne es zuzugeben. Im Kasten darunter steht nämlich ganz unauffällig: „Turrini, geb. 26.9.1941“.

Auf einer Grafik in „Mein Geld“ lodern die Flammen bewegter Aktienmärkte. Auf diese rote Fläche werden auch die Unternehmensergebnisse gedruckt – in roten Buchstaben, weil der Farbtiegel gerade offen ist (1.9.). In ihrer Vollendung hilft die Zeichnung nur dann, wenn sich jemand aus Sorge, er sei farbenblind, mit ihr zum Augenarzt begibt.

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DER AUTOR

Dr. Engelbert Washietl ist freier Journalist, Mitbegründer und Sprecher der „Initiative Qualität im Journalismus“ (IQ). Die Spiegelschrift erscheint ohne Einflussnahme der Redaktion in ausschließlicher Verantwortung des Autors. Er ist für Hinweise dankbar unter:

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.09.2014)

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