Wehe, wenn Briten im EU-Chor fehlen sollten

Was das Vereinigte Königreich alles in die Europäische Union einbringt: Für Brüssel würde es eine außenpolitische und wirtschaftliche Schwächung bedeuten, wenn es auf die Stimme Großbritanniens verzichten müsste.

Die vom britischen Premier David Cameron für 2017 angekündigte Volksabstimmung über einen Verbleib Großbritanniens bei der EU sowie auch die Abstimmung Schottlands über eine Trennung vom Vereinigten Königreich vor einer Woche haben einer alten Frage neue Brisanz gegeben: Was eigentlich hat die EU von einem Mitglied Großbritannien?

Politische Entscheidungsprozesse laufen dort auf einem soliden Fundament ab. Schlägt die Europäische Kommission ein neues Rechtsinstrument vor, so wird dies von einer Abschätzung begleitet, welche Kosten, Nutzen und Risken der Vorschlag bringt.

Nur das Vereinigte Königreich bereitet sich regelmäßig mit detaillierten Studien auf die vorgeschlagenen Neuerungen vor. Natürlich schätzen auch andere EU-Länder die Auswirkungen für sich ab, der ersten Wortmeldung Großbritanniens im Zuge des Verhandlungsgeschehens ist jedoch stets die ungeteilte Aufmerksamkeit gewiss.

Selbstbewusste Gestaltung

Wenn man in London der Ansicht ist, ein EU-Vorschlag sei verfehlt, beschränkt man sich oft nicht auf Kritik im Detail, sondern bringt (was so gar nicht nach dem Geschmack der Kommission ist) durchaus auch einen ausformulierten Gegenvorschlag in die Diskussion ein. Auch während der britischen Ratspräsidentschaften wurde vielfach demonstriert, wie groß – den Einsatz von Ressourcen und Professionalität vorausgesetzt – der Gestaltungsspielraum eines einzelnen EU-Mitgliedstaates sein kann.

Für viele kleinere Staaten war dies ein wichtiges Vorbild: Großbritannien hat andere gelehrt, am Haus Europa selbstbewusst und gestaltend mitzubauen. Nicht immer ist – etwa bei Umweltthemen – das Selbstbewusstsein, mit dem die britische Haltung vertreten wird, für ökologisch orientierte Staaten leicht verdaulich. Man setzt auf den britischen Inseln stark auf unternehmerische Selbstverantwortung und ist bei der Privatisierung von Infrastruktur und Dienstleistungen für die Öffentlichkeit stets an vorderster Front gestanden.

Auch wenn man da und dort Fehler eingestehen musste (Beispiele: Bahnsystem, Wasserversorgung), traut man sich im Vereinigten Königreich doch, konsequent zu sein und Erfahrungen zu machen. Aus diesen britischen Erfahrungen können dann alle ihre Lehren und ihren Nutzen ziehen.

Konsequenz gilt auch für den Vollzug in Großbritannien. Die effektive Handhabung einmal beschlossener EU-Normen (etwa im Umweltbereich) ist auf beispielhaftem Niveau und wird bei der Verhandlung zu dieser Norm bereits sorgfältig mitbedacht. Wir haben uns vom Vollzug von Produktnormen vor Ort ein Bild gemacht und einige Ansätze der britischen Kollegen in Österreich implementiert.

Horrorszenario „Brexit“

Gewiss, die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion könnte heute viel weiter gehen, hätte London hier nicht auf seinem eigenen Weg beharrt. Die Ausgestaltung der „Bankenunion“ jedoch und auch die „Basel III“-Maßnahmen wurden von britischer Seite mitentwickelt und mitgetragen.

Ein sensibles Gleichgewicht – auch aus Interesse an der Stärkung des Finanzplatzes London – ist hier entstanden. Mit der Europäischen Bankenaufsichtsbehörde und der Medizinagentur beheimatet London zwei wichtige EU-Behörden.

Auch deren aufwendige Absiedelung wäre Thema bei einem „Brexit“, einem Austritt Großbritanniens aus der EU. Ein solcher würde ein organisatorisches Horrorszenario bedeuten, eine Neudefinition der britisch-europäischen Beziehungen würde auf Jahre enorme Kapazitäten binden. In bilateralen Abkommen müsste der jetzige gemeinsame Rechtsbestand entflochten und neu entwickelt werden. Das Schweizer Modell (prinzipiell keine Teilnahme am Binnenmarkt, fallspezifische Einzelabkommen) würde wohl von keiner Seite angestrebt.

Konsequente Personalpolitik

Dann vielleicht ein gemeinsamer Wirtschaftsraum, ohne dessen Rahmenbedingungen mitgestalten zu können (norwegisches Modell)? Das wäre für die G7-Nation Großbritannien undenkbar. Ist der Sonderstatus des ohnehin schon „Nicht-Euro“- und (so gut wie) „Nicht-Schengen-Landes“ Großbritannien nicht noch weiter ausgestaltbar, weiter entwickelbar?

Mit seinem tatsächlichen Ausscheiden würde London auch das Recht verlieren, Schlüsselpositionen in EU-Institutionen zu besetzen. Kein Mitgliedsland hat, quer durch alle Politikbereiche, eine derart konsequente Abstimmung von inhaltlichen Prioritäten und Personalpolitik durchgezogen.

Britische Expertinnen und Experten sitzen oft an jenen Schaltstellen, die für die britische Politik besondere Schwerpunkte darstellen – dafür werden Spitzenleute ins Rennen geschickt, was auch nicht zum Schaden der EU ist. Und diesen Einfluss auf die Gestaltung des wichtigsten Wirtschaftsraumes der Welt will Großbritannien aufgeben? Dieser Punkt ist in der „Brexit“-Debatte wahrscheinlich noch gar nicht diskutiert worden.

In der laufenden britischen Debatte wird die solide Grundlage an Zahlen, Schätzungen und Befunden zum Verhältnis zwischen EU und Vereinigtem Königreich noch großteils ausgeblendet. Sie passt nämlich schlecht zur Botschaft der EU-Skeptiker, dass sich die britische Wirtschaft außerhalb der EU deutlich stärker entwickelt hätte.

Auch für die EU würde es eine außenpolitische und wirtschaftliche Schwächung bedeuten, auf die Stimme Großbritanniens verzichten zu müssen. Nicht nur wegen der zwar oft kritischen, aber meist konstruktiven und stets professionellen Rolle der Briten beim Bau des Hauses Europa – ohne sie verlöre die Stimme der EU an Gewicht und an Qualität.

Säule des Dialogs mit den USA

Bei Verhandlungen auf Ebene der UNO ist die Mitarbeit britischer Expertinnen und Experten an der Ausarbeitung und Vertretung der EU-Position von zentraler Bedeutung – dies nicht nur wegen der englischen „mother tongue“. Das internationale Geschehen hat in Großbritannien hohen Stellenwert, dementsprechend intensiv und engagiert wird es begleitet, was etwa im Verhältnis USA/EU eine nicht zu unterschätzende Relevanz hat. Diese „special relationship“, die von amerikanischer und britischer Seite immer betont wird, ist eine Säule im sensiblen transatlantischen Dialog insgesamt.

Großbritannien als gleichberechtigtes Mitglied in europäische Entscheidungsprozesse fest eingebunden zu haben hat eine ganz andere Qualität, als eine EU-Position mit britischen Outsidern besprechen zu müssen. Auch wenn London etwa Behörden eher in der Rolle der Beobachtenden als in jener der Kontrollierenden sieht und damit oft extreme Positionen innerhalb Europas einnimmt: Ein kräftiger Schuss Großbritannien tut den EU-Rechtsinstrumenten gut.

Last, but not least: Die britische Stimme im Chor der EU ist zwar in den Proben nicht immer leicht zu handhaben, sie trägt aber viel zu dessen Gesamtauftritt bei.

E-Mails an:debatte@diepresse.com

DER AUTOR



Thomas Jakl (*1965) ist Biologe und Erdwissenschaftler. Er arbeitete bis 1991 an der Uni Wien, wechselte dann ins Umweltministerium. Heute leitet er im Landwirtschaftsministerium die Abteilung Chemiepolitik, Risikobewertung und Risikomanagement. Er ist stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender des Umweltbundesamtes und war Vorsitzender des Verwaltungsrates der EU-Chemikalienagentur. [ Rita Newman]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.09.2014)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.