Wie man der Radikalisierung begegnen könnte

Ein Plädoyer für einen gemeinsamen Werte- und Ethikunterricht.

Es wäre übertrieben zu sagen, es sei Angst. Aber Unbehagen beschleicht mich. Zwar gehöre ich glücklicherweise zu den Privilegierten. Meine Eltern hatten sich hochgearbeitet, mir hat es nie an etwas gefehlt. Ich konnte maturieren, studieren und mir so die Basis für ein ordentliches Auskommen schaffen. Ich bin wohl Teil der viel zitierten Mittelschicht.

Und dennoch fühle ich Unbehagen. Wenn ich Pro-Erdoğan-Demonstrationen in Wien erlebe, Attacken auf israelische Fußballspieler, Hasstiraden auf eine Journalistin – nur weil sie ihren Job macht, nämlich eine Diskussion zu leiten und Fragen zu stellen. Mir ist das Radikale und Rückwärtsgewandte im Islam unheimlich. Genauso wie mir das Radikalfundamentalistische im Katholischen oder im Judentum etc. unheimlich ist.

Mir ist klar: Die Mehrheit der hier lebenden Moslems finden solche radikalen Vorkommnisse wohl genauso bedenklich wie ich. Aber es scheinen doch viele zu sein, deren Werteverständnis nichts mit dem unsrigen, aufgeklärt-europäischen, zu tun hat. Dabei ist bei uns bei Gott nicht alles eitel Wonne – wie zuletzt die Hasspostings in der Debatte über die Töchter in der Bundeshymne wieder gezeigt hat.

Erodierende Wertebasis

Dennoch hat man den Eindruck: Es gibt noch eine Grenze, die nicht unterschritten wird. Man nimmt es beispielweise mit Frauenrechten, mit der Gleichberechtigung zwar noch nicht so genau. Aber es steht außer Streit, dass Frauen eigentlich die gleichen Rechte haben. Es steht außer Streit, dass sie heiraten dürfen, wen sie wollen, lachen können, wann sie wollen, anziehen und arbeiten können, was sie wollen. Manchmal scheinen mir diese Grenzen wieder in Gefahr zu geraten. Manchmal scheint es, dass unsere Wertebasis erodiert.

Ich liebe andere Kulturen – aber Radikalisierung und Unterwanderung ist mir unheimlich. Und ich frage mich: Wie kommen wir zu einem gemeinsamen Werteverständnis? Wie gehen wir mit diesen Fragen „politisch korrekt“ um? Wie schaffen wir es, das Beste aus unterschiedlichen Kulturen in Österreich und Europa Realität werden zu lassen und Rückwärtsgewandtheit die Stirn zu bieten.

Was bei uns geht und was nicht

Je öfter ich darüber nachdenke, umso klarer ist die Antwort: Ohne einen gemeinsamen und verpflichtenden Werte- und Ethikunterricht in den Schulen wird es nicht gehen. Jede und jeder sollte wissen, was bei uns geht und was nicht – und warum. Wenn jemand zusätzlich noch Religionsunterricht will: gut. Aber alle – ob Christ, Moslem oder Jude, ob gläubig oder nichtgläubig – sollten ein gemeinsames Verständnis für Ethik, Werte und grundlegende Rechte vermittelt bekommen.

Das kann nur mit einem Ethikunterricht funktionieren, der nicht von Religionslehrern gemacht wird, sondern von Ethiklehrern mit Äquidistanz zu allen Religionen. Denn ein gemeinsames Wertefundament kann nur diesseits einer religiösen Überzeugung liegen – im aufgeklärten Humanismus, der auf sich ständig weiterentwickelndem Wissen beruht; und der den Mut hat, existenzielle Fragen zu stellen, die vielleicht auch nach langem Abwägen nicht eindeutig mit Ja oder Nein zu beantworten sind, weil wir es eben noch nicht wissen. Und weil es auf viele Fragen kein einfaches Nein oder Ja gibt, sondern nur das Ringen um einen möglichst würdevollen Umgang mit dem Unklaren.

Wo sonst soll ein gemeinsames Verständnis für ein respektvolles, aufgeklärtes Zusammenleben in Österreich und Europa gelernt werden, wenn nicht in der Schule – in einem gemeinsamen Werte- und Ethikunterricht?

Mag. Klemens Riegler-Picker (* 1970) war Geschäftsführer des Ökosozialen Forums. Gründer des „Change Tanks“ und Obmann der Bildungs-NGO „Jedes Kind“.

E-Mails an:debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.10.2014)

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