Gemeinsamer Ethikunterricht löst die Probleme nicht

Der Kampf gegen Radikalisierung der Gesellschaft muss an den Wurzeln ansetzen.

Klemens Riegler-Picker stellt anlässlich von gesellschaftlichen Radikalisierungstendenzen in seinem „Presse“-Gastkommentar (2.10.) eine treffende Diagnose: Das europäisch-aufgeklärte Werteverständnis verliert zusehends seine Selbstverständlichkeit, ethische Grenzen werden infrage gestellt, die gemeinsame Wertebasis droht zu erodieren.

Kein Wunder, dass ihn Unbehagen beschleicht. Seine Therapie in Form eines gemeinsamen Werte- und Ethikunterrichts in den Schulen kann jedoch nicht überzeugen, erst recht nicht die Vision eines Wertefundaments, das „jenseits einer religiösen Überzeugung“ liege, nämlich im aufgeklärten europäischen Humanismus.

Der zunehmenden Radikalisierung eines Teils der islamischen Bevölkerung kann nicht mit einem unverbindlichen Wertediskurs in der Schule begegnet werden. Vom Ansatz her verkehrten Ideen können nur richtige Ideen entgegengesetzt werden.

Riegler-Picker spricht ethische Werte wie Grund- und Gleichheitsrechte und respektvolles Zusammenleben und damit Normen an, die noch von der Mehrheit in unserem Land unterstützt werden. Wenn dieser Konsens aber tatsächlich in Gefahr ist, dann reicht es nicht, an diese „Werte“ zu appellieren. Dann müssen wir wieder nach den eigentlichen Wurzeln dieser Normen fragen, nach ihrer Begründung im Wesen des Menschen, der Welt, und letztlich Gottes selbst.

Frage nach dem letzten Grund

All diese Fragen waren bereits Themen antiker Philosophie, und nur zu unserem eigenen Schaden ignorieren wir heute die Frage nach dem letzten Grund. Denn die Aufklärung selbst ist in der Krise. Scheinbar klare Vernunftwahrheiten lösen sich auf, das Gute ist nicht mehr selbstverständlich.

Wer der Mensch wirklich ist, wozu er da ist – diese Fragen scheinen unbeantwortbar geworden zu sein und stürzen viele in existenzielle Krisen. Die entscheidende Frage wird also: Wenn überhaupt, woher kann ich diese Dinge wissen? Offensichtlich gewinnen wir die Antworten nicht aus uns selbst. Aber wenn wir eine Antwort von außerhalb brauchen, wem können wir dann für die richtige Beantwortung trauen? Ich bestreite, dass es die Ethiklehrer mit „Äquidistanz zu allen Religionen“ sind.

Der unbequeme Weg vorwärts

Nein, der Weg vorwärts ist einfacher, aber auch unbequemer: Wir müssen neu die Wahrheits- und Handlungsansprüche der Religionen ernst nehmen, sie miteinander vergleichen und schließlich eine Wahl zwischen ihnen treffen. Wir müssen fragen: Was spricht für Jesus, was für Buddha, was für Mohammed? Was sagen sie über das Wesen Gottes und des Menschen? Wie sieht es mit der Übereinstimmung von Worten und Taten im Leben der Religionsstifter aus?

Areligiöser Ethikunterricht mit „neutraler“ Wertebasis weicht diesen zentralen Fragen aus. Deshalb ist er nicht radikal genug, um der Radikalisierung entgegenwirken zu können. Er bleibt in denselben Unverbindlichkeiten stecken wie unsere Ethikkommissionen.

Ethische Unterweisung beginnt im Elternhaus, setzt sich fort in der religiösen Gemeinschaft und in der Schule. Es ist eine Illusion, zu meinen, gemeinsamer Ethikunterricht wäre die Lösung für erkannte Probleme. Wir müssen tiefer ansetzen: bei einer erneuten Entscheidung für die weltanschauliche, philosophisch-religiöse Basis für unsere ethischen Normen und zivilisatorischen Errungenschaften. Wir müssen zurück zu unseren Wurzeln. Die liegen nicht an indischen Flüssen, in arabischen Wüsten oder germanischen Wäldern, sondern primär vor den Toren Jerusalems.

Kurt Igler (*1966), ThM (Master of Theology), studierte evangelische Theologie in Wien, Gießen, Vancouver B.C. und Leuven. Seit vielen Jahren in der Studentenarbeit und Erwachsenenbildung aktiv.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.10.2014)

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