Orbáns Ungarn: Ein Land gibt (sich) auf...

25 Jahre nach der Wende ist Ungarns Demokratie am Ende: Untergraben von der Macht- und Geldgier der politischen Elite, destabilisiert von der Korruption, ausgehöhlt von der politischen Abstinenz der Gesellschaft.

Ungarn wählt am kommenden Sonntag, den 12.Oktober seine Gemeinde- und Stadträte: Schon allein, dass die Frage aufkommen kann, ob diese Wahlen in einer von Respekt, Fairness und einem offenen Kräftemessen geprägten, demokratischen Atmosphäre stattfinden werden, spricht Bände über Ungarns derzeitige politische Verhältnisse.

Das Wahlrecht wurde vor wenigen Wochen von der parlamentarischen Zweidrittelmehrheit des Fidesz geändert, Wahlkreise wurden umstrukturiert, Werbemöglichkeiten beschnitten, das demokratische Grundprinzip, dass jede Stimme gleich wiegt, wurde oft unterlaufen. Budapest, eine Hochburg der Opposition, wurde wahlrechtlich in 23 Städte zerschlagen.

25 Jahre nach der Wende ist Ungarns Demokratie am Ende. Untergraben von der Macht- und Geldgier der politischen Elite aller Lager, destabilisiert von der allumfassenden Korruption, ausgehöhlt von der politischen Abstinenz der ungarischen Gesellschaft, versetzt ihr nun der rechtsautoritäre Fidesz den Todesstoß.

Abbau der Demokratie

Die demokratischen Errungenschaften der Jahre 1989/90 hatten die Ungarn ja nie wirklich zu schätzen gewusst: Freiheit, Rechtsstaat und Marktwirtschaft sind ihnen dank einer weltpolitischen Konstellation und der – unter der Bedingung, nicht zur Verantwortung gezogen zu werden – kapitulationsbereiten Kommunisten in den Schoß gefallen. Kämpfen dafür hatte niemand müssen.

So schlossen die Ungarn ihre Dritte Republik nie ins Herz, betrachteten sie nie als zwar schlecht funktionierendes, aber doch zu verteidigendes Gut. Als sie den ersehnten westlichen Wohlstand (bei Beibehaltung des sozialistischen Schlendrians und der politischen Teilnahmslosigkeit) nicht gewährleisten konnte, war sie auch bald verteufelt. Allein, zerstört hat die Republik die christlich-demokratisch apostrophierte Politik von Viktor Orbán.

Der schleichende Abbau der Demokratie stieß auf wenig Gegenwehr. Dass die seit Wochen anhaltende Drangsalierung und Verfolgung von Bürgerinitiativen kaum öffentliche Proteste auslöst, überrascht deshalb kaum. Umso mehr vielleicht, wie sehr die längst marginalisierten Menschenrechts- und Umweltschutzgruppen der Fidesz-Kamarilla offensichtlich noch immer ein Dorn im Auge sind. Immer unverfrorener wird am Ausbau der Orbán'schen „illiberalen Demokratie“ gearbeitet, die Grenze zur „liberalen Diktatur“ überschritten.

Die staatlichen Medien, offiziell als öffentlich-rechtlich bezeichnet, bestechen durch unfassbare Einseitigkeit: Der Ministerpräsident eröffnet Schulen und Spitäler, maßregelt die Banken, leistet Katastropheneinsatz. Sein Hofstaat eilt von einem mittelasiatischen Präsidentenpalast zum anderen, die Dreschmaschinen rollen TV-gerecht über Felder, wie sie es seit den 1980er-Jahren nicht mehr getan haben. Arbeitslosenrate, Preise und Betriebskosten im freien Fall, die ungarischen Wirtschaftsdaten im Höhenflug – ganz Europa erblasst vor Neid und Staunen.

Spießrutenlauf der Banken

Kommentare unabhängiger Wirtschaftsfachleute gibt es selten – wenn doch, werden sie von der Moderation schnell heruntergelesen oder ins Lächerliche gezogen. Abend für Abend werden „die Banken“ vorgeführt wie Schwerverbrecher, die nun ihre gerechte Strafe erhalten: Mag sein, dass ihre Westen in Sachen Fremdwährungskredite nicht ganz sauber sind, aber ihnen absolut keine Möglichkeit zu bieten, ihre Sicht darzulegen, zu kommentieren, hat nichts mit fairem Journalismus zu tun.

Allein die „blühenden Landschaften“, wie sie die Fidesz-Agitprop-Abteilung allabendlich darstellen lässt, gibt es nicht: Abseits der mit EU-Geldern sanierten, mit Horthy-Devotionalien „behübschten“ und so verunstalteten städtischen Hauptplätze ist das Land in einem kläglichen Zustand. Ein Blick aus dem Rail-Jet auf brachliegende Felder, marode Bahnhöfe, verwahrloste Hintergärten, verlassene Fabriken oder in die Nebengassen Budapests genügt.

Keine seriöse Prognose bescheinigt dem Land einen nachhaltigen Wirtschaftsaufschwung. Ungarns mobile Elite aller Schichten und Klassen ist längst weg. Rund eine halbe Million putzt, lehrt, lernt, kellnert, forscht, heilt, pflegt, stellt zu oder baut inzwischen im Westen: vertrieben von der Aussichtslosigkeit, der Borniertheit der politischen Klasse, auf der Flucht vor einer frustrierten Generation, die das Land im tödlichen Würgegriff hält, angewidert von den politischen, kulturellen und sozialen Verhältnissen ihrer Heimat.

Nur die Hartnäckigsten harren aus, aus Trotz und Patriotismus, und weil sie noch immer hoffen, etwas verändern zu können.

Visionslose Opposition

Aber Ungarns Problem ist nicht der Fidesz, der obsessive Machthunger des Vizepräsidenten der Europäischen Volkspartei oder die rechtsradikale Jobbik. Es ist auch die ungarische Opposition, die das Land immer mehr ins Abseits führt. Sie bleibt eine zerstrittene, visionslose, begriffsstutzige und moralisch verkommene Clique, die unfähig ist, ein minimales Programm für eine demokratische Wende zu produzieren, eine Alternative zu präsentieren.

Dies gilt für die postkommunistisch-sozialdemokratische Formation, die mit dem sozialdemagogischen Kurs der Regierung paktiert und dafür gnadenhalber höfische Opposition spielen darf. Es gilt ebenso wie für die Partei des ehemaligen Ministerpräsidenten und derzeitigen Hofclowns Ferenc Gyurcsány, der nicht bereit ist, aus seinen Niederlagen Konsequenzen zu ziehen. Aber es gilt auch für den einstigen Hoffnungsträger, nun in der Versenkung verschwundenen linksliberalen Gordon Bajnai oder für die nicht einmal einer Erwähnung werte „grüne“ LMP.

EU-geförderter Themenpark

Allein die Tatsache, dass der konservative und neoliberale Lajos Bokros, der überall in Europa der maßgeschneiderte Politiker einer demokratischen Zentrumspartei wäre, der Kandidat der „Linken“ für das Amt des Budapester Bürgermeisters werden kann, bzw. dass die vereinte Opposition in der Großstadt Miskolc mit Albert Pásztor einen Rassisten ins Rennen schickt, illustriert das Chaos, die Verwahrlosung der politischen Kultur, die totale Desorientierung der Anti-Orbán-Koalition.

Die Gemeinderatswahlen werden nur zeigen, wie sehr sich Orbáns Politik(stil) des ganzen Landes bemächtigt hat: Nichts und niemand kann ihn derzeit aufhalten. Allein das Land und vor allem dessen Zukunft hat Orbán verloren. Er und seine Entourage werden für eine gute Zeit einen von der EU-geförderten Themenpark der Zwischenkriegszeit mit unfairen, halb freien Wahlen, schwachen Gewerkschaften und gelenkten Medien sowie ein billiges und immer schlechter ausgebildetes Arbeitskräftereservoir für Westeuropa mit drei Millionen Habenichtsen, einigen Speichelleckern und einer kleinen, reichen Oligarchenschicht verwalten.

Reichsverweser Horthy lässt schön grüßen.

E-Mails an:debatte@diepresse.com

DER AUTOR


Béla Rásky,
in Wien geborener und ausgebildeter Historiker, Verfasser mehrerer Bücher zu zeithistorischen Themen, war ab 1997 Direktor des 2003 aufgelassenen Austrian Science and Research Liaison Office in Budapest. Nach freiberuflicher Tätigkeit leitet er seit 2010 das Wiener Wiesenthal-Institut für Holocaust-Studien (VWI). [ Privat ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.10.2014)

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