Nachrichten von Amerikas Niedergang sind verfrüht

Ja, die Politik in Washington ist blockiert und das Vertrauen in die Institutionen gesunken. Aber ist die Lage hoffnungslos?

Wenige Wochen vor den Kongresswahlen werden wieder vermehrt Fragen über den Zustand der politischen Institutionen der USA und die Zukunft der globalen Führungsrolle Amerikas laut. Manche Beobachter verweisen auf die parteipolitische Blockade als Beleg für den Niedergang der USA. Aber ist die Situation wirklich so schlimm?

Laut der Politologin Sarah Binder war die ideologische Kluft zwischen den beiden großen amerikanischen Parteien zuletzt Ende des 19. Jahrhunderts derart groß. Doch trotz des aktuellen politischen Stillstands hat es der 111. Kongress geschafft, umfassende steuerpolitische Konjunkturmaßnahmen, eine Gesundheitsreform, Gesetze zur Regulierung des Finanzsektors, einen Abrüstungsvertrag und überarbeitete Richtlinien für die Streitkräfte zur Homosexualität zu verabschieden. Es wäre völlig verfrüht, das politische System der USA abzuschreiben (insbesondere dann, wenn parteipolitische Blockaden eine zyklische Erscheinung sind). Trotzdem aber leidet der Kongress heute unter einer geringen gesetzgeberischen Kapazität.

Die meisten Amerikaner haben keine durchgängig „konservativen“ oder „liberalen“ Ansichten. Sie treten dafür ein, dass ihre gewählten Vertreter einander auf halbem Wege entgegenkommen. Die politischen Parteien aber sind seit den 1970er-Jahren immer ideologischer geworden.

Gesteuerte Ineffizienz

Dies ist kein neues Phänomen. Die amerikanische Verfassung beruht auf der liberalen Sichtweise des 18.Jahrhunderts, wonach Macht am besten durch Gewaltenteilung und ein System einander ausgleichender Checks & Balances unter Kontrolle gehalten wird. Dieses System zwingt den Präsidenten und den Kongress, in Bereichen wie Außenpolitik um die Federführung zu konkurrieren. Anders ausgedrückt: Das amerikanische Regierungssystem ist auf eine gewisse Ineffizienz ausgelegt, um zu gewährleisten, dass die Freiheit seiner Bürger nicht so ohne Weiteres bedroht werden kann.

Diese Ineffizienz aber dürfte zum abnehmenden Vertrauen in die amerikanischen Institutionen beigetragen haben. Weniger als ein Fünftel der Bevölkerung vertraut heute darauf, dass die Bundesregierung überwiegend das Richtige tut, verglichen mit noch drei Vierteln im Jahr 1964.

Der Vertrauensverlust ist nicht auf die Bundesregierung allein beschränkt. Während der vergangenen Jahrzehnte hat das Vertrauen der Öffentlichkeit in viele wichtige Institutionen stark abgenommen. Zwischen 1964 und 1997 ist der Anteil der Amerikaner, die den Universitäten vertrauen, von 61 auf 30 Prozent gesunken, während das Vertrauen in die Großunternehmen von 55 auf 21 Prozent gefallen ist. Das Vertrauen in medizinische Einrichtungen ist von 73 auf 29Prozent zurückgegangen und das in die Medien von 29 auf 14 Prozent. Während des letzten Jahrzehnts hat sich das Vertrauen in Bildungseinrichtungen und Militär erholt, aber das Vertrauen in die Wall Street und Großkonzerne ist weiter im Sinken.

Diese vordergründig alarmierenden Zahlen sollten jedoch in die Irre führen. Tatsächlich betrachten 82 Prozent der Amerikaner die USA noch immer als besten Platz der Welt, um dort zu leben, 90 Prozent gefällt ihr demokratisches Regierungssystem. Vielleicht sind die Amerikaner mit ihrer Führung nicht gänzlich zufrieden. Doch am Rand einer Revolution im Stile des Arabischen Frühlings steht das Land ganz eindeutig nicht.

Obwohl die Parteipolitik in den letzten Jahrzehnten eine stärkere Polarisierung erfahren hat, folgte dies auf die 1950er- und frühen 1960er-Jahre, als das Ende der Großen Depression und der Sieg im Zweiten Weltkrieg ein ungewöhnlich hohes Maß an Vertrauen in die Institutionen bewirkten. Tatsächlich gab es den stärksten Verlust öffentlichen Vertrauens Ende der 1960er-, Anfang der 1970er-Jahre.

Gründe für Vertrauensverlust

Zudem gehen mit dem abnehmenden Vertrauen in die Regierung bisher keine wesentlichen Veränderungen im Verhalten der Bürger einher. So gehört die nationale Steuerbehörde (IRS) zu jenen staatlichen Institutionen, denen am wenigsten Vertrauen entgegengebracht wird; zu einer massiven Zunahme der Steuerhinterziehung ist es bisher aber nicht gekommen.

Obwohl die Wahlbeteiligung bei den Präsidentschaftswahlen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von 62 auf 50 Prozent zurückgegangen ist, hat sie sich im Jahr 2000 stabilisiert und ist 2012 auf 58 Prozent angestiegen.

Der von den Amerikanern zum Ausdruck gebrachte Vertrauensverlust könnte seine Wurzeln in einem tiefer greifenden Wandel der Einstellungen der Menschen in Richtung Individualismus haben, der eine geringere Achtung vor der Autorität mit sich gebracht hat. Tatsächlich sind ähnliche Muster für die meisten postmodernen Gesellschaften charakteristisch.

Verbunden mit Kommunen

Dieser soziale Wandel wird die Effektivität amerikanischer Institutionen angesichts des dezentralisierten föderalen Systems der USA möglicherweise weniger stark beeinflussen, als man annehmen könnte. Tatsächlich geht mit einem Stillstand in der Bundeshauptstadt häufig politische Zusammenarbeit und Innovation auf Ebene der Einzelstaaten und der Kommunen einher, was dazu führt, dass die Bürger ihre Regionalregierungen sowie viele staatliche Behörden sehr viel wohlwollender betrachten als die Bundesregierung.

Die differenzierte Bewertung der Regierungsführung hat profunde Auswirkungen auf die Mentalität der US-Bevölkerung. Eine Studie aus dem Jahr 2002 zeigt, dass drei Viertel der Amerikaner sich ihren Kommunen verbunden fühlen und ihre Lebensqualität als hervorragend bis gut einschätzen; fast die Hälfte der Erwachsenen engagiert sich in Bürgervereinigungen oder geht staatsbürgerlichen Aktivitäten nach. Für die USA ist dies eine gute Nachricht.

Sie bedeutet jedoch nicht, dass die amerikanische Führung die Mängel des politischen Systems – wie etwa die durch Manipulation der Wahlbezirksgrenzen entstandenen „sicheren Sitze“ im Repräsentantenhaus oder die Obstruktionspolitik im Senat – weiter ignorieren kann. Ob sich solche Brutnester des Stillstands jedoch ausmerzen lassen, bleibt abzuwarten.

Wie einst das antike Rom?

Es gibt zwar berechtigten Grund zu bezweifeln, dass Amerika seinen Status als „Hypermacht“ aufrechterhalten kann, nicht zuletzt wegen des Aufstiegs wichtiger Schwellenländer. Doch wie der konservative Autor David Frum festgestellt hat, sind in den USA in den letzten zwei Jahrzehnten die Kriminalität, tödliche Autounfälle, Alkohol- und Tabakkonsum und die den sauren Regen verursachenden Schwefeldioxid- und Stickoxidemissionen deutlich zurückgegangen – und das alles, während Amerika eine Internetrevolution angeführt hat.

Angesichts dieser Tatsachen sind düstere Vergleiche etwa mit dem Niedergang Roms einfach nicht gerechtfertigt.

Aus dem Englischen von Jan Doolan
Copyright: Project Syndicate, 2014.


E-Mails an: debatte@diepresse.com

DER AUTOR



Joseph S. Nye
(*1937 in South Orange, New Jersey) ist Professor für Politikwissenschaft an der Harvard University. Er war Vorsitzender des National Intelligence Council (1993/94) und stellvertretender US-Verteidigungsminister (1994/95). Nye gilt als außenpolitischer Vordenker, er prägte das Konzept der „weichen/harten Macht“. Sein jüngstes Buch: „Presidential Leadership and the Creation of the American Era“. [ Project Syndicate ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.10.2014)

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