Viele Katastrophen, aber Millionen weniger Hungernde

Vor 40 Jahren hungerte noch jeder dritte Mensch, heute noch jeder neunte.

Wer die beiden Meldungen liest, könnte meinen, es gehe um zwei verschiedene Welten: Zum einen nehmen die Katastrophen rund um den Globus dramatisch zu, die internationale Staatengemeinschaft muss heute mehr als doppelt so viel humanitäre Hilfe leisten wie noch vor zehn Jahren. Zum anderen aber: Die Zahl der Hungernden weltweit nimmt ab. Allein 2013 konnten sich 37 Millionen Menschen vom Hunger befreien – fast so viele Menschen wie in ganz Österreich, der Schweiz, Bayern und Baden-Württemberg zusammen leben.

Zwar hungern immer noch 805 Millionen, doch der Trend ist beeindruckend: Vor 40 Jahren hungerte jeder dritte Mensch auf der Welt – zum heutigen Welternährungstag 2014 noch jeder Neunte.

Dennoch müssen Helfer in aller Welt erstmals fünf Krisen zugleich meistern: die Krisen in Syrien und im Irak, die Hungerkrise im Südsudan, die Kämpfe in der Zentralafrikanischen Republik sowie die Ebola-Epidemie – von dem großen Hilfsbedarf etwa im Gazastreifen oder in der Ukraine ganz zu schweigen. Erstmals benötigen 2014 weltweit über 100 Millionen Menschen akute humanitäre Hilfe.

Zugleich belegt der nun zum Welternährungstag vorgelegte UN-Bericht große Erfolge im Kampf gegen Hunger: In Lateinamerika, in Asien, aber auch in afrikanischen Staaten wie Äthiopien, Botswana, Ghana konnte der Hunger in den letzten Jahren fast halbiert werden.

Effektive Ernährungshilfe

Dies liegt zum einen an großen Anstrengungen dieser Länder selbst, wieder in die Landwirtschaft und ihre Kleinbauern zu investieren, die absurderweise drei von vier Hungernden weltweit stellen. Zudem ist die Ernährungshilfe effektiver denn je: Ausgefeilte Frühwarnsysteme ermöglichen es heute, so früh zu reagieren, dass Krisen erst gar nicht zu Katastrophen werden, wie etwa die Dürrekrise in Westafrika 2012, die noch vor wenigen Jahren zur Hungerkatastrophe geworden wäre. Stattdessen haben Regierungen und Helfer mit innovativen Bargeldprogrammen Millionen Bauern befähigt, trotz längst versiegter Vorräte auf ihren Feldern zu bleiben, sich inmitten der Krise mit neuen Bewässerungssystemen gegen künftige Dürren zu wappnen – zum Wohle ihrer selbst und ihrer Gemeinden.

Jüngste Erfolge gefährdet

Nothilfe und Entwicklung lassen sich heute besser und effektiver verknüpfen denn je, zum Wohle von Millionen Menschen, die dem Hunger entfliehen konnten. Doch entscheidende Basis dieser Erfolge ist es, schnelle und ausreichende Nothilfe zu leisten. Und hier beleuchten die aktuellen Katastrophen eine immense Gefahr noch weit über die akute Not hinaus: Wenn wir die akuten Krisen nicht rasch eindämmen, verspielen wir alle jüngeren Erfolge im Kampf gegen Hunger und Armut.

Beispiel Ebola-Epidemie: Was als Gesundheitskrise begann, ist inzwischen zu einer Ernährungskrise eskaliert. 1,3 Millionen Menschen sind in den Ebola-Gebieten inzwischen auf Ernährungshilfe angewiesen, weil Bauern ihre Felder nicht bestellen können, Märkte zusammenbrechen, der Güterverkehr in die unter Quarantäne stehenden Gebiete zusammengebrochen ist.

Beispiel Syrien-Krise: Ohne humanitäre Hilfe drohen auch die Nachbarstaaten Syriens destabilisiert zu werden. Gleichzeitig gehen den Helfern die Mittel aus. Millionen geflohenen Syrern droht sehr bald zu erfahren, was dies konkret für sie bedeutet: Mitten im Kriegsgebiet werden sie ab sofort nur noch die Hälfte der Nahrungsmittel bekommen, die sie benötigen. Oder gar nichts mehr, wie hunderttausende Flüchtlinge in der Türkei. Mit katastrophalen Folgen.

Ralf Südhoff ist Leiter des Welternährungsprogramms (WFP) in Deutschland, Österreich und der Schweiz.


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("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.10.2014)

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