Die richtige Lehre aus der türkischen Krise

Der Ausgang des Verbotsverfahrens wird der türkischen Demokratie weiter schaden – wenn sich Erdogan einschüchtern lässt.

Das höchste Gericht des Landes hat die AKP, die Regierungspartei von Premier Erdogan, also nicht verboten. Eine Stimme fehlte. Kommentare der türkischen Presse lesen sich, als hätte ein Hurrikan in letzter Minute seine Richtung geändert. Verspätet können nun die Volksvertreter in Ankara in den Urlaub gehen.

Was bedeutet dieses Urteil aber für die Zukunft der türkischen Demokratie? Manche gewinnen der Krise der letzten Wochen etwas Gutes ab: Hat nicht das Gericht der AKP einen Denkzettel verpasst und damit dem Land einen guten Dienst erwiesen, ohne letztlich bleibenden Schaden? Nach seinem Wahlsieg im letzten Sommer hätte sich Erdogan zunehmend um die Anliegen seiner (religiösen) Anhänger gekümmert, die Opposition und säkulare Türken aber ignoriert. Das Sündenregister der AKP reicht dabei von der Wahl Abdullah Güls zum Präsidenten bis zu den Verfassungsänderungen im März, die es auch Frauen mit Kopftuch ermöglicht hätten, an Hochschulen zu studieren. Hat die Anklage nicht zumindest dazu geführt, dass islamistische Elemente innerhalb der Partei ihre Grenzen aufgezeigt bekamen? Macht dieses Urteil die Türkei so nicht stabiler?

System mit schweren Strukturfehlern

Es gibt auch eine andere Sicht auf die Krise der letzten Monate, die weniger schmeichelhaft für die türkische Demokratie ausfällt. Tatsächlich hat die Tatsache, dass das Schicksal einer vom Volk gewählten Regierung am Ende von der Stimme eines Richters abhing, schwere Strukturfehler sichtbar gemacht. Es ist schlicht absurd, wie leicht in der Türkei in den letzten Jahrzehnten Dutzende Parteien verboten werden konnten. Auch das Urteil der Richter zu den Verfassungsänderungen im März war zutiefst problematisch. Dabei geht es nicht darum, ob man für oder gegen das Kopftuchverbot an Universitäten ist.

Es geht darum, wie solche Fragen in Zukunft zu entscheiden sind. Durch Gesetze, gemacht von Volksvertretern, die den Wählern gegenüber verantwortlich sind (solange diese im Einklang mit europäischen Grundrechten stehen)? Oder durch Richter, die sich auf die ewigen Prinzipien des Kemalismus stützen und dabei zur Ideologie des Einparteiensystems der 30er-Jahre zurückgehen? Mit dieser Logik lassen sich noch viele notwendige Reformen aushebeln, von Minderheitenrechten bis zur Kontrolle des Militärs durch das Parlament.

Damit aber ist man beim Kern des türkischen Problems angelangt. Das Erschreckende an der Krise der letzten Wochen war die Erkenntnis, dass eine große Minderheit einflussreicher Türken wenig von demokratischen Grundprinzipien hält. Daher wäre es auch schlimm, wenn die Regierungspartei ab nun zur Vermeidung von Spannungen nur mehr im Einklang mit den Vorstellungen der Oppositionsparteien CHP und MHP zu regieren versucht. Konkret würde dies bedeuten, das Verbot anderer (vor allem kurdischer) Parteien weiter zuzulassen und nicht das Parteiengesetz und die Verfassung zu reformieren.

Auch mit der Gewährung von Minderheitenrechten (von CHP und MHP abgelehnt) sollte es eine konsensorientierte AKP nicht übertreiben. Von echter Redefreiheit nicht zu reden: Selbst die geringen Korrekturen des Paragrafen 301, von der AKP-Mehrheit verabschiedet, gingen der CHP viel zu weit! Eine AKP, der von diesem Urteil die Zähne gezogen wären, würde besser zulassen, dass weiterhin Schriftsteller angeklagt, eingeschüchtert, verurteilt werden. Und der Entwurf einer neuen, progressiven Verfassung sollte wohl besser auf Eis gelegt werden, um das säkulare Establishment nicht weiter zu provozieren.

Wenn die AKP diese Lehren aus der Krise ziehen würde, hätte der Ausgang des Verbotsverfahrens der türkischen Demokratie eine weitere Wunde geschlagen. Denn das Problem der AKP in den letzten Jahren war weniger ihre Arroganz; das Problem war vielmehr ihre Feigheit, oft auch gegen den Willen ihrer nationalistischen Gegner dringende Reformen anzupacken.

Man weiß nun: Diese Feinde waren entschlossen, der Druck auf Erdogan enorm. Doch um solche Krisen in Zukunft unmöglich zu machen, bedarf es eben einer neuen Verfassung. Es bedarf auch stärkerer Rechte von Minderheiten (ob Kurden, Alewiten oder Christen) und der vollen zivilen Kontrolle über das Militär. Wenn dazu weiterer Streit mit der Opposition notwendig ist, dann muss gestritten werden.

AKP muss Konfrontation wagen

So war die ermutigendste Erkenntnis der letzten Wochen der wachsende Druck einer zunehmend selbstbewussten Zivilgesellschaft, von Medien und von Teilen der Justiz, die sich nicht länger mit einer Türkei abfinden, in der straflos Putsche geplant werden und politische Morde stattfinden können. Es bleibt zu hoffen, dass die AKP nach dem Sommer nun erst recht die Demokratisierung der Türkei vorantreiben wird, auch wenn dies zu „Spannungen“ im Parlament oder mit dem Militär führen könnte.

Ein politischer Tsunami wurde verhindert – nun geht es darum, sicherzustellen, dass sich Ähnliches in Zukunft nicht mehr ereignen kann.
Siehe Bericht Seite 7

Gerald Knaus ist Open Society Fellow und Vorsitzender des Forschungs- und Beratungsinstituts ESI (European Stability Initiative). Er lebt in Istanbul. www.esiweb.org

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.08.2008)

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