Wo bleibt der demokratische Fortschritt?

Heftige Reaktionen folgten auf das in der „Presse“ von österreichischen Wissenschaftlern veröffentlichte „Manifest für ein demokratisches Europa“ : Eine Replik auf die Repliken.

Die Diskussion dieses Manifests einer interdisziplinären Gruppe hat begonnen. Gegen die herrschende Meinung, also die Meinung der Herrschenden, zu sprechen, ist stets ein Wagnis, und jede Wende zum Besseren musste sich historisch gegen beharrende Kräfte durchsetzen. Wir haben es gewagt und freuen uns über die bisherigen Reaktionen. Als Initiator des Manifests und in kurzfristiger Abstimmung mit den Mitautoren (soweit möglich) versuche ich in aller Kürze ein paar Antworten aus meiner Sicht:

Das Manifest hat nach dem Votum in Irland darauf reagiert, dass die Krise der EU endlich auch für jene sichtbar wurde, die den Irrweg der Nicht-Einbeziehung der Bevölkerung beschönigen. Man sollte die Krise als Chance zu einer Demokratisierung der EU sehen. Dass manche ein anderes Verständnis von Demokratie haben als wir, ist uns nicht unbekannt; wir bleiben aber dabei, dass die demokratische Ordnung nicht auf Spielregeln reduziert werden darf, die abgeändert werden, wenn z.B. in Irland, das als einziger Staat der Bevölkerung eine Volksabstimmung zubilligte, „falsch“ abgestimmt wurde.

Auch das Wahlrecht wurde erkämpft

Der Bürger will als Souverän beachtet werden. Auch das Wahlrecht musste erst erkämpft werden; nun geht es um mehr Respekt vor der Bevölkerung. Ist der Vertrauensschwund der Großparteien noch nicht groß genug? Die repräsentative Demokratie muss endlich durch direktdemokratische Elemente gestärkt werden.

Wo bleibt der Fortschritt seit der Antike? Für Plato bestand die Fähigkeit zur Staatsführung vor allem in der Gerechtigkeit; die Urteilsfähigkeit über diese habe Zeus an alle Menschen gleich verteilt. Da sich aber jene, die herrschen wollen, gern den bloßen Anschein der Gerechtigkeit geben, verlangten die Athener – so erklärte er –, dass man zu allen politischen Entscheidungen alle fragen muss. Weil das im modernen Großstaat nicht geht, ist es umso wichtiger, dass Regenten Diener des Volkes (vgl. Mk 10, 42) sind. Nach Ernst Fraenckel, dem Klassiker der Politikwissenschaft, ist die freie Meinungs- und Willensbildung noch wichtiger als alle Einrichtungen und jedes Gesetz. Die Kompetenz-Kompetenz bleibt beim Souverän, d.h., was wichtig ist, also auch die Verfassung, soll von der Bevölkerung und nicht über sie hinweg entschieden werden. In den USA fordert Benjamin Barber mehr partizipatorische Rechte; und was ist mit der EU?

Das Demokratiedefizit der EU ließe sich auch durch den Lissabonner Vertrag nicht beheben, da es keine gesamteuropäische Öffentlichkeit gibt. Das Europaparlament darf ja weiterhin keine Gesetze initiieren etc. Jürgen Habermas betont, dass auch eine Aufwertung des Europaparlaments das Demokratiedefizit der EU nicht beseitigen könne, weil die nationalen Öffentlichkeiten europäische Themen in der Meinungsbildung vernachlässigen und weil sich die nationalen Öffentlichkeiten bei europäischen Themen erst einmal füreinander öffnen müssten. Daher können die EU-Bürger auch eine relativ gestärkte Stellung des Parlaments nicht wirklich nützen.

Die Person hat Vorrang vor dem Kapital

Man darf die Probleme der EU nicht tabuisieren und eine solche Haltung als die angebliche Europa-Gesinnung einfordern. Da ist zum Beispiel das soziale Defizit. Dieses kann erst behoben werden, wenn die Demokratie, die „Herrschaft der Ärmeren“ (Aristoteles) durch plebiszitäre Elemente gestärkt wird. Das heißt auch, dass sich die vier Grundfreiheiten an der sozialen Verantwortung und Nachhaltigkeit orientieren müssen und nicht umgekehrt. Freiheit ist grundsätzlich unteilbar und bedeutet die durch das Recht vor Machtwillkür geschützte Würde der Person. Zur „Freiheit des Kapitalverkehrs“ sollte aber mit John Rawls betont werden, dass soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten nur dann gerechtfertigt sind, wenn die Ärmsten und Schwächsten dadurch einen Vorteil haben. Für manche mag der Vorrang der Person vor dem Kapital Unsinn sein, für uns aber nicht.

Das Manifest ist nicht gegen die EU, sondern für eine Reform Europas, etwa durch einen besseren Vertrag, um die Probleme der Globalisierung effektiver und gerechter zu lösen und um die EU im Inneren demokratischer zu gestalten. Ein Vertrag ohne Klarheit kann leicht missbraucht werden; und ohne die Zustimmung der Bevölkerung ist jedes Gerede von Demokratie sinnlos. Diese und alle anderen Probleme und Belange der EU sollen offen diskutiert werden wie jedes andere Thema. Denn ohne Offenheit gibt es keine Öffentlichkeit.

Die Politiker sind nur mit bedingungsweise übertragener Macht ausgestattet und die politische Elite möge begreifen, dass gemeinsame Entscheidungen der ganzen Bevölkerung tragfähiger sind. Das könnte der Geist eines neuen EU-Vertrags sein, dann würden alle mündigen Bürger auf breiter Basis Maßnahmen zur Bewältigung kommender Krisen suchen. Die Bevölkerung muss einbezogen werden und gemeinsam klären, jeder Einzelne vor dem Hintergrund seines Fachgebietes, welche Maßnahmen Probleme lösen – und welche eher Probleme schaffen.

Lesen und verbreiten Sie also das Manifest!

Univ.-Prof. Dr. Erwin Bader lehrt Philosophie an der Universität Wien.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.08.2008)

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