Mehr Parlamentarismus ins Parlament

Neue Wahlergebnisse erfordern neue Rollen für Präsident und Parlament.

Die österreichische Bundesverfassung erlaubt dem Bundespräsidenten nur eine wichtige Handlung ohne Vorschlag und damit aus freien Stücken vorzunehmen: die Ernennung (oder Entlassung) des Bundeskanzlers. Schon für die Ernennung der restlichen Regierungsmitglieder ist er dann auf deren Vorschläge angewiesen. Auch den Nationalrat kann der Bundespräsident (nur) auflösen, indem er den Umweg über einen Kanzler nimmt, der ihm ebendiese Auflösung empfiehlt.

Einer auf diesem Wege ernannten Regierung sowie einzelnen Regierungsmitgliedern kann der Nationalrat dann zwar das Misstrauen aussprechen, die Ernennung selbst aber kann er nicht verhindern. Im Unterschied zu Deutschland, ist in Österreich ein „konstruktives Misstrauensvotum“, bei der gleichzeitig mit der Abwahl des Regierungschefs eine Nachfolgerin gewählt wird, nicht vorgesehen: Gänzlich ohne Mitwirkung des Bundespräsidenten geht es also nicht.

Auf Machtbalance ausgelegt?

Formal betrachtet, ist die österreichische Verfassung damit auf Machtbalance ausgelegt: Der Präsident kann seine Regierung nicht gegen das Parlament durchsetzen. Das Parlament aber auch keine Regierung ohne Präsidenten wählen. In der österreichischen Realverfassung spiegelt sich diese Pattsituation bislang in keinster Weise wider. Die eigentlich sehr starke Stellung des Präsidenten ist trotz dessen Volkswahl nicht erkennbar. Nur einmal – die berühmte Minderheitsregierung Kreiskys – wurde eine Regierung ohne eindeutige Parlamentsmehrheit angelobt.

Grund für die formale Dominanz des Parlaments ist nicht zuletzt der historische Glaube der österreichischen Sozialdemokratie, alles Gute komme vom Parlament: In letztlich vergeblicher Erwartung einer absoluten Parlamentsmehrheit kämpfte die Sozialdemokratie in der Ersten Republik für das Primat des Nationalrats. Von dessen Mehrheit sollte alle Macht ausgehen, Gewaltenteilung zwischen Exekutive und Legislative schien Otto Bauer und seinen Parteigenossen ein „bürgerliches“ Konzept zu sein. Dieses Vertrauen ins Parlament war schon immer und bestenfalls naiv: So zentral das Mehrheitsprinzip für die Demokratie, so sehr hat die Geschichte gezeigt, dass auch Massen und damit Mehrheiten irren können. Alle Macht der Mehrheit ist dementsprechend „Demokratur“, die Diktatur der Mehrheit. Grundrechte, qualifizierte Mehrheiten und eben auch die Gewaltenteilung sind die verfassungsgesetzlichen Vorkehrungen gegen diese Gefahr.

Aber auch die in der Verfassung angelegte, starke Stellung des Parlaments ist nur eine Schimäre, die Realverfassung hier ebenfalls eine andere. Dank Klubzwang und Listenwahlrecht ist der österreichische Nationalrat ein Parlament ohne Parlamentarismus, das seine formale Macht vollständig an die Regierung delegiert und so zur Abstimmungsmaschine degeneriert. Das Primat des Parlaments bedeutet in der österreichischen Realität alle Macht für die Regierung und somit für die von ihr dominierten Parteien.

Realverfassung ändern

Bleibt die Frage, warum sämtliche Debatten in österreichischen Feuilletons anlässlich der Gefahr „italienischer Verhältnisse“ nur um gleichermaßen grundlegende wie unrealistische Vorschläge wie die Einführung eines Mehrheitswahlrechts kreisen. Dabei wäre es doch viel nahe liegender, es vor einer Änderung der Formalverfassung vielleicht einmal mit Änderungen der Realverfassung zu versuchen: Warum soll der Bundespräsident nicht eine Frist von zwei Monaten für Regierungsverhandlungen setzen und danach entweder eine Koalitions- oder eben eine Minderheitsregierung seiner Wahl angeloben? Natürlich kann diese vom Nationalrat danach jederzeit gestürzt werden, aber noch vor Ablauf der ersten 100 Tage im Amt müsste sich im Parlament dafür auch erst ein mehrheitsfähiger Anlass finden. Aber selbst wenn – es bliebe dem Präsidenten unbenommen, einen neuen Anlauf zu wagen. Und wer sagt denn, dass die Parlamentsfraktionen nicht sogar Gefallen an einer gewachsenen Bedeutung in Zeiten ohne Koalitionsvereinbarung und mit wechselnden Mehrheiten finden könnten? Würde nicht paradoxerweise die stärkere Rolle des Präsidenten, der seine Regierung ernennt, auch den Nationalrat aufwerten? Ein wenig mehr Parlamentarismus würde dem österreichischen Parlament gewiss nicht schaden.

Eine Änderung der Realverfassung könnte wie folgt aussehen: Solange sich keine stabile Koalitionsmehrheit zusammenfindet, obliegt es dem Bundespräsidenten, ein „Kabinett der besten Köpfe“ anzugeloben. Das Parlament spricht der gesamten Bundesregierung erst dann das Misstrauen aus, wenn es eine stabile Koalitionsmehrheit gibt. Im Übrigen gilt die Formalverfassung: Einzelnen Ministern wird dann das Misstrauen ausgesprochen, wenn ebendieses – zum Beispiel als Ergebnis eines Untersuchungsausschusses – begründet ist. Gesetzesvorschläge werden nicht nur abgenickt, sondern im Parlament debattiert, verhandelt und abgestimmt. Die bisherige exekutive und legislative De-facto-Alleinherrschaft der Bundesregierung könnte durch dieses Zusammenspiel von Parlament und Präsident an die de iure intendierte Verfassungssituation herangeführt werden. Utopisch? Vielleicht. Realistischer als ein Mehrheitswahlrecht aber allemal.

Leonhard Dobusch studierte Rechtswissenschaften und Betriebswirtschaft in Linz und ist derzeit am Kölner Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung tätig.


meinung@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.10.2008)

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