Kirche: In 2000 Jahren immer wieder geändert

Die heurige Bischofssynode war keine Niederlage der Reformer. Papst Franziskus will die katholische Lehre im Licht gesellschaftlicher Veränderungen anwenden. Die "geistigen Erdbeben" werden vielen guttun.

Die Zukunft der Kirche kann nicht in der Kapitulation vor dem Zeitgeist liegen.“ Zu dieser Feststellung von Pater Stefan Frey von der Priesterbrüderschaft St. Pius X. („Die Presse“, 29.10.14) kann man nur vorbehaltlos Ja sagen. Zu weiteren Behauptungen leider nicht. Zitat: „Erstmals in der Kirchengeschichte versucht ein Papst – in vielleicht gut gemeintem Reformeifer – eine zweitausendjährige kirchliche Lehre und Praxis über den Haufen zu werfen, die doch als unveränderliches göttliches Vermächtnis gilt.“

Erstmals Änderungen? Tatsache ist, dass sich Lehrformulierungen und Praxis 2000 Jahre lang immer wieder geändert haben, so wie Kenntnisse und Erfahrungen und im Gefolge davon die Lebensformen sich laufend ändern. Ein paar Beispiele, die reichhaltig ergänzt werden könnten: „Ein Christ, der einen anderen Christen (!) tötet, vergießt das Blut Christi“, befand ein Konzil 1045. Nach dem Wüten westeuropäischer Kreuzfahrer im ostkirchlichen Konstantinopel im 4. Kreuzzug schrieb Papst Innozenz III.: „Diese Krieger Christi, die ihre Waffen gegen die Ungläubigen einsetzen sollten, badeten im Blut Christi.“

Was ist ein gerechter Krieg?

Die Entwicklung der Kriterien eines „gerechten Krieges“ erstreckte sich über Jahrhunderte: ein Gesinnungswandel in vielen Etappen. Ohne diesen wären wir heute noch beim „Siegen im Zeichen des Kreuzes“.

Noch 1866 hielt das Heilige Offizium fest: „Sklaverei verstößt nicht gegen natürliches und göttliches Recht.“ Papst Innozenz IV. ermunterte die Herrscher Häretikern gegenüber auch zur Anwendung von „Folter, die das Leben nicht gefährdet oder ihre Glieder verletzt“. Wie human! Johannes Chrysostomos nannte um 400 die jüdische Synagoge ein „Bordell“ und Origenes wollte um 230 das Blut Jesu über „alle Juden bis zum Ende der Welt“ kommen sehen. Aus der Bibel eine Verwerfung der Juden durch Gott abzuleiten, wurde erst vom letzten Konzil und allen Päpsten seither strikt verworfen.

In der Frau erblickte Origenes eine „Einfallspforte des Teufels“. Papst Leo I. dekretierte um 450: „In allen Müttern erfolgt Empfängnis nicht ohne Sünde.“ Der Kirchenrechtler Gratianus lehrte noch 1140, die Frau sei „nicht nach Gottes Bild geschaffen“. Fortpflanzung war bis zum jüngsten Konzil als einziger Ehezweck anerkannt; 1965 kam der gegenseitige Liebeserweis dazu, und Franziskus erwähnt als Erster die Weitergabe von „göttlichem Leben“ auch als Erfüllung des Fortpflanzungsgebots.

Papst Paul VI. verbat im Jahr 1968 gegen eine massive Mehrheit geweihter und ungeweihter Fachleute sogenannte künstliche Verhütungsmittel. Papst Johannes Paul II. erklärte Verhütung wie Abtreibung zur „Kultur des Todes“. Darf die Kirche dabei stehen bleiben?

Heftig bestritt die katholische Kirchenleitung bis zum Zweiten Vaticanum das Recht auf freie Religionswahl und das Kirche-Sein nicht katholischer Christen. Dass die längste Zeit Aussagen der Bibel über solche von säkularen Wissenschaftlern gestellt wurden (Kopernikus! Galilei! Darwin!), ist allgemein geläufig.

Andererseits war die Einstellung der Kirche zur Demokratie ursprünglich viel offener als heute. „Kein Bischof soll gegen den Willen des Volkes installiert werden,“ mahnte im Jahr 420 Papst Cölestin I. Bevor Päpste das Recht zur Bischofsbestellung an sich zogen, haben Kaiser und Könige, Grafen und Domkapitel Bischöfe gewählt. Die 1800 Jahre alte Faustregel des heiligen Cyprian („Nichts ohne den Bischof, nichts ohne den Rat der Priester, nichts ohne Zustimmung des Volkes“) hat 1970 auch der damalige Kardinal Josef Ratzinger als „klassisches Modell kirchlicher Demokratie“ bezeichnet – aber keine Konsequenzen daraus gezogen.

Hübsche Umgehungswege

Vom Zinsverbot des Alten wie des Neuen Testaments wollen wir barmherzig schweigen. Es gilt theoretisch für Juden, Christen und Muslime, aber alle drei Religionen haben hübsche Umgehungswege ausfindig gemacht. In der katholischen Kirche kann der Papst die „höchste, volle, unmittelbare und universale Gewalt immer frei ausüben“. (Um diesen Canon 331 des Kirchenrechts herum haben nicht nur Reformer, sondern auch die Piusbrüder einen Weg, besser gesagt, eine breite Straße gebaut.)

War also die ganze Kirchengeschichte wirklich eine „Kapitulation vor dem Zeitgeist“? Oder nicht doch eine immer wieder notwendige Einbettung der gleich bleibenden Lehre Jesu Christi in die sich ständig wandelnden Lebenswirklichkeiten in unterschiedlichen Zivilisationsgruppen und -stufen?

„Obwohl die Offenbarung abgeschlossen ist, ist ihr Inhalt nicht zur Gänze ausgeschöpft. Es bleibt Sache des christlichen Glaubens, im Lauf der Jahrhunderte nach und nach ihre ganze Tragweite zu erfassen,“ befand das Zweite Vaticanum. Im Dekret „Dei Verbum“ (8) liest man, dass Gott „in ständigem Gespräch mit seiner Kirche“ stehe und die Gläubigen immer neu inspiriere. Das ist keine „Schilfrohr-Moral“, nach der jeder Mensch mit dem Segen der Kirche „tun und lassen kann, was er will.“ Es ist eine späte Erkenntnis der Theologie, dass Glauben ein Wachstums- und Lernprozess ist.

Jede Generation muss sich dem Zwiegespräch mit Gott und der Welt stellen und um immer bessere Antworten auf gleich bleibende Fragen ringen. Vertiefung ist das, nicht Verharmlosung. Das ist mühsam, aber unausweichlich – als einzige menschenwürdige Alternative zu der alle Religionen bedrohenden Versuchung, in änderungsresistenter Buchstabenideologie den Glauben zur Gebrauchsanweisung für Morden im Namen Gottes zu machen.

Kein blindwütiger Neuerer

Papst Franziskus ist kein blindwütiger Neuerer. Er will keine Lehre explizit ändern, aber sie im Licht gesellschaftlicher Veränderungen anwenden. Die heurige Synode galt dem Sammeln ungeschminkter Zustandsbeschreibungen. Wohl wurde dabei auch um Formulierungen gerungen, aber von einem Scheitern der Reformbemühungen kann überhaupt keine Rede sein. Heuer erhielten sämtliche Vorlagen des Papstes und der Arbeitsgruppen einfache Mehrheiten. Das war sensationell! Bei der beschlussfassenden Synode 2015 werden Zweidrittelmehrheiten erforderlich sein. Das ist gut, um knappe Überstimmungen zu verhindern.

Bewegung aber muss sein. Bewegung ist Leben, Erstarrung ist Tod. Nicht um Anhimmelung des klappernden Gespenstes Zeitgeist geht es, sondern um Berücksichtigung ernst zu nehmender, weil unumkehrbar auftretender „Zeichen der Zeit“. Wenn der Papst wichtige Fragen nicht allein entscheiden, sondern die Bischöfe der Welt einbinden möchte, befolgt er damit nur einen Grundsatz, der auch dem „Weg der Tradition“ konservativer Kirchenmitglieder nicht fremd sein dürfte: Nicht der Papst, sondern die Gesamtheit der Gläubigen bildet die Stimme der nicht fehlenden Kirche. Die „geistigen Erdbeben“ werden vielen Menschen guttun.

E-Mails an:debatte@diepresse.com

ZUR PERSON

Hubert Feichtlbauer (geboren 1932) ist freier Journalist. Er arbeitete für zahlreiche Medien wie „SN“ und „Wochenpresse“: Er war Chefredakteur des „Kurier“ sowie der „Furche“, Pressechef der Wirtschaftskammer und Vorsitzender des Verbands katholischer Publizisten. Feichtlbauer war auch Vorsitzender der Plattform „Wir sind Kirche“. [ APA]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.10.2014)

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