Poly – Besichtigung einer ungeliebten Schulform

Muss man unbedingt Matura machen? Plädoyer für einen Schultyp mit schlechtem Ruf, dem eine kleine Reform guttäte.

Als ich Mitte der Achtzigerjahre den damaligen Polytechnischen Lehrgang absolvierte, war ich mäßig an der Schule interessiert, lernfaul und etwas übergewichtig. Am Übergewicht hat sich nichts verändert, am Rest im Laufe des Schuljahres 1985/86 schon. Das lag nicht an der tollen Ausstattung des Rieder „Poly“, es lag am Faktor Lehrer. Den Pädagogen John Hattie kann man zu Recht auf den Satz eindampfen: „Teacher matters.“ Ja, der Lehrer machte damals den Unterschied.

Die Frage nach der Lehrstelle war nach drei Wochen im „Poly“ auch gelaufen: In der Nach-Kreisky-Zeit kamen auf jeden in unserer Klasse gefühlte 15 freie Lehrstellen, und besonders wagemutige Lehrbetriebe kamen schon einmal an die Schule, um in der Klasse mit Leberkäse und Cola für ihren Betrieb zu werben.

Gewiss: Der Ruf unseres Schultyps lag damals bereits auf Ramschniveau. Das scherte uns jedoch wenig: In der Welt der Achtziger wählte eine Mehrheit der Berufsanfänger den Lehrberuf, die Oberstufe war was für Streber, etwas für jene, die es „sich richten konnten“.

Weg vom Bildungsradar

Im Jahr 2014 ist das Makulatur. Nur mehr zwölf Prozent eines Jahrgangs finden heute den Weg über die Polytechnische Schule (PTS) in den Lehrberuf. Und nur mehr 18Prozent der Schüler des neunten Schuljahres verbringen dieses überhaupt noch an einer PTS. Von den Absolventen der PTS verschwinden im Jahr darauf überhaupt 20Prozent von jedem Bildungsradar. Über deren weiteren Bildungsverlauf weiß man schlicht – nichts.

Das ist sehr schade. Hat die Polytechnische Schule doch in den letzten 15 Jahren eine der wenigen durchdachten Transformationsprozesse in der reformreichen Schulgeschichte seit 1945 durchgemacht. Die Hälfte des Unterrichts erfolgt nun in Fachgruppen. Im realitätsnahen Praxiseinsatz erleben die Schüler, ob Bau, Metall, Büro, Handel oder Tourismus für sie passende Berufsfelder darstellen. Die Lehrer sind meist selbstbewusste Praktiker, die ihr Berufsfeld gut kennen und mit den Wirtschaftsbetrieben auf Augenhöhe sprechen können.

Nicht geändert hat sich allerdings der Ruf der PTS als Pariaschule. Der Satz: „Wenn du für die Oberstufe zu dumm bist, kannst du gern ins Poly wechseln!“ ist ein häufig zu hörender.

Das Bildungsmantra, dass man in Österreich einfach Matura haben muss, um im Berufsleben durchstarten zu können, haben unsere Bildungspolitiker zu lange und zu oft getrommelt. Inzwischen ist es auch bei der letzten Supermarktregalschlichterin angekommen, die will, dass es ihr „Kind einmal besser hat!“.

Wenn die OECD dann in schöner Regelmäßigkeit die niedrige Akademikerquote in Österreich rügt und auf Ö3 am Mittwoch schon das Wochenende ausgerufen wird, dann drückt das auf den Ruf der handwerklichen Arbeit und auf die Schülerzahlen der Polytechnischen Schulen.

Noch etwas drückt: Die Tatsache, dass die Neuen Mittelschulen ihren Abgängern die Oberstufenreife scheinbar en bloc bescheinigen. Hier wirkt die Neue Mittelschule als echter Brandbeschleuniger weg vom dualen System aus Polytechnischer Schule/Lehre hin zur Schule mit Matura.

Dass viele dieser Schüler in diesen Schulen maßlos überfordert sind und spätestens bis Weihnachten als „Rückfluter“ an die Polytechnischen Schulen kommen, wird nie erwähnt. Warum auch? Die Stunden („Ressourcen“), die mit dem Schüler verbunden sind, darf die Oberstufe behalten. Und sich freuen.

Wie das Bundesheer

Das Poly ist so etwas wie das Bundesheer unseres Bildungssystems. Wir hatten es schon immer ein wenig im Verdacht, dass man da nichts lernt, Geld wollen wir dafür auch keines rausrücken, aber durch irgendwelche vertrackten Paragrafendetails können wir das Ganze nicht einfach abschaffen.

Was beim Bundesheer die Neutralität ist, das ist in der Schule die Idee, dass jedem Schüler die Erfüllung der Schulpflicht ermöglicht wird. Und wo ginge das besser als eben in der Polytechnischen Schule, die jeden Schüler aufnehmen muss? Und so kann man beobachten, wie an vielen Polytechnischen Schulen die Anzahl dieser Schüler massiv steigt. Was im Neusprech so schön Inklusion heißt, meint in der Praxis des Schultages leider das Abstellen des Unterrichtsniveaus auf den schwächsten Schüler.

Wer einmal gesehen hat, wie ein (!) Lehrer an einer Polytechnischen Schule 18 Schüler (zwei ADHS, zwei mit Downsyndrom, vier verhaltensoriginelle Jugendliche) im praktischen Werkstattunterricht, na ja: sagen wir, unterrichtet hat, der weiß um die Wertlosigkeit der Phrasen zur Inklusion.

Weil die Lehrer an Polytechnischen Schulen offenbar damit noch nicht ausgelastet sind, hat sich unser immer kreatives Schulmanagement etwas Neues einfallen lassen: Die Ideen der Neuen Mittelschule sollten auch den Polytechnischen Schulen zu neuem Glanz verhelfen. Leider hat man „vergessen“, Geld dafür zur Verfügung zu stellen, daher plagt sich nun meist eine Lehrkraft allein mit „Lerndesign“, „Notenskala 4.0“, „Klippert-Material“ – dem intensiven Ausfüllen von Arbeitsblättern und dergleichen Kram. Das alles soll etwas stärken, was man „Kompetenzen“ nennt.

Reparatur mit Arbeitsblatt

Stellen Sie sich dieses System einmal für Berufsanfänger in der Kfz-Werkstatt vor: Wo lassen Sie Ihr Auto reparieren? Dort, wo Lehrlinge anhand eines Arbeitsblattes die Einzelteile des Motors beschriften und dann versuchen, Ihren Motor zu reparieren? Oder dort, wo der Lehrling das unter fachkundiger Meisteranleitung lernt? Eben.

Eine von der steirischen volkswirtschaftlichen Gesellschaft vorgelegte Studie kommt zu einem eindeutigen Ergebnis: Lehrlinge sollten kopfrechnen können, Deutsch beherrschen, das Grüßen kennen, halbwegs selbstständig denken und arbeiten können. Von abstrakten Sozial-, Lese- oder Verhaltenskompetenzen steht in der Studie nichts.

Mit Herausforderungen wie den obigen wird die PTS zur bedrohten Schulart. Mit einer einfachen Reform wäre unserem Schultyp schon geholfen. Man sollte mit dem PTS-Zeugnis jenes der Neuen Mittelschule ausbessern können. Dann kann man auch über die Sterne am Himmel reden: die Etablierung der PTS als Schule mit mittlerer Reife nach deutschem Vorbild.

Allerdings ist es dazu vielleicht bereits zu spät. Abseits der Branchen Metall, Bau und Tourismus setzen Firmen verstärkt auf Maturanten, mehr aber noch auf gut eingearbeitete Arbeiter aus den europäischen Nachbarländern. Setzt sich der Trend fort, so kann vielleicht in 20 Jahren die slowakische Luftwaffe, die dann unseren Luftraum überwacht, am Freitag nach Dienstschluss einige der vielen Facharbeiter mit nach Hause nehmen, die dann das Backbone unserer Wirtschaft bilden?

E-Mails an: debatte@diepresse.com

DER AUTOR



Hannes Eichsteininger
hat Geschichte an der Universität Salzburg studiert. Seit 20 Jahren unterrichtet er an verschiedenen Polytechnischen Schulen des Bezirkes Ried (OÖ). Er ist Erwachsenenbildner und Buchautor. 2013 erschien „Lehrer werden – Mensch bleiben“. Der Autor ist auch Vortragender zu Bibeln des 15. und 16.Jahrhunderts. [ Privat ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.11.2014)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.