Fußach 1964: Aufstand gegen Wiener Zentralisten

Vor 50 Jahren verjagten die Vorarlberger den Verkehrsminister und ebneten den Weg für Atomabstinenz Österreichs.

Vor 50 Jahren, genau am 21.November 1964, erlebte Österreich mit den Ereignissen rund um die Taufe eines Bodenseeschiffes in Fußach einen Akt der aktiven Bürgergesellschaft. 30.000 Menschen in Vorarlberg begründeten eine Bürgerbewegung, die dann 14 Jahre später, im Jahr 1978, entscheidend dazu beitrug, dass Österreich sich mehrheitlich gegen die Atomkraft aussprach.

Auf die Wiener war man im fernen Vorarlberg der 1960er-Jahre schlecht zu sprechen. Als es dann im Oktober 1964 Gewissheit wurde, dass ein neu erbautes Bodenseeschiff der ÖBB auf den Namen „Karl Renner“ getauft werden sollte, war die Frustrationsschwelle überschritten. Mit gezielter Orchestrierung der „Vorarlberger Nachrichten“ unter ihrem Chefredakteur, Franz Ortner – die Zeitung hatte ihre Kampagnenkompetenz zuvor schon anlässlich des Rundfunkvolksbegehrens bewiesen –, wurde offen gegen die „Koalitions-Zentralisten“ in Wien Stimmung gemacht. Das führte dann dazu, dass die Vorarlberger Landesregierung keinen offiziellen Repräsentanten zur Schiffstaufe entsandte. Der damalige Verkehrsminister, Otto Probst (SPÖ), wäre bei der Schiffstaufe aber trotzdem nicht allein gewesen.

Faule Eier und Obst für Probst

Ein Begrüßungskomitee für den Sonderzug aus Wien mit 1000 Menschen auf dem Bregenzer Bahnhof und 20.000 Demonstranten in Fußach, dem Ort der Schiffstaufe, veranlassten Verkehrsminister Probst, anstatt auf dem Landweg die Anreise nach Fußach vom Bregenzer Hafen per Schiff zu nehmen. Auf Anraten der Gendarmerie drehte er aber wieder ab und traf so in Fußach nie ein.

„Obst für Probst“ war das Motto bereits auf dem Bregenzer Bahnhof gewesen: faule Eier und Tomaten für den Minister aus Wien, und in Fußach war noch mehr vorhanden. Das Schiff wurde am 21. November 1964 getauft – nicht mit Champagner auf den Namen „Karl Renner“, sondern mit Bodenseewasser durch eine Vorarlberger Demonstrantin auf den Namen „Vorarlberg“. Symbolträchtige Zwischenfälle wie die Entfernung der österreichischen Bundesflagge, die Flucht der Festgäste auf das ebenfalls im Hafen liegende Schiff „Österreich“ – welche Symbolik! – und Aggressionen gegen einen Vorarlberger SPÖ-Nationalrat, der mit Steinen und Erde attackiert wurde, schufen einen Politskandal, der in aufgeheizter Stimmung aufgearbeitet werden sollte.

Verkehrsminister Probst wollte in Bregenz die beiden Vorarlberger Tageszeitungen beschlagnahmen lassen, was die Vorarlberger Gerichte ablehnten. Die Justiz wurde bemüht, gegen die verantwortlichen Rädelsführer vorzugehen. Justizminister Christian Broda wollte die Causa gar weg von Vorarlberg zur Staatsanwaltschaft Wien delegieren. Im Februar 1965 sprach Bundespräsident Adolf Schärf auf dem Totenbett seinen Wunsch nach Aussöhnung mit den Vorarlbergern aus, was sein Nachfolger, Franz Jonas, dann im September 1965 mit Einstellung der Strafverfahren formal auch vollzog.

Der Nationalrat in Wien debattierte die Vorkommnisse. Die Große Koalition war damals schon gelähmt, eine gemeinsame Stellungnahme des Ministerrates zu Fußach kam nicht zustande. SPÖ-nahe Kommentatoren schrieben in ihren Medien die Restauration des Faschismus herbei, die „Arbeiterzeitung“ kommentierte: „Und dann stelle man sich vor, dass diese Methoden zur Durchsetzung eines politischen Willens in den anderen Bundesländern Schule machen. Es braucht wenig Fantasie, um zu sehen, wohin das führte.“

Die Dynamik des Tages ist aber auch als Geburtsstunde politischer Teilnahme der Bürger zu werten.

Neue Wege in der Politik

Neben einer umfassenden Diskussion um gewünschten Föderalismus als bürgernahe Teilnahme an der Politik und einer Handlungskultur des Sicheinmischens in politische Angelegenheiten sollte sich die direkte Demokratie kraftvoll weiterentwickeln.

Insbesondere die „Vorarlberger Nachrichten“ verstanden sich in der Folge auch als eine Art politisches Kompetenzzentrum. Eine Regionalzeitung, die Otto von Habsburg als ständigen Kommentator und den international angesehenen Militärdiplomaten General Wilhelm Kuntner als Berater in sicherheitspolitischen Fragen zur Verfügung hatte, präsentierte sich selbst als ein Gegenstück zum Provinzialismus.

Wichtige politische Themen wurden angesprochen und von einem großen Teil der Vorarlberger Bevölkerung mitgetragen, die im wahrsten Sinn des Wortes demonstrierten, neue Wege in der Politik anzudenken.

Auch Bundeskanzler Bruno Kreisky schätzte diese Koordination einer Bürgerbewegung durch ein regionales Medium. Die Initiative zur Entscheidung über den Bau des Arlberg-Straßentunnels soll im Rahmen eines seiner viel beachteten Skiurlaube in Lech erfolgt sein.

Provokation an der Grenze

Die größte Nachhaltigkeit erzielten die Nachfolger der Fußach-Demonstranten mit der Anti-Atom-Bewegung in Vorarlberg. In den 1970er-Jahren waren Proteste gegen ein geplantes schweizerisches Atomkraftwerk in Rüthi notwendig, das, direkt an der Grenze errichtet, keine zehn Kilometer von den Vorarlberger Gemeinden entfernt gewesen wäre. Der gemeinsame Grenzfluss Rhein hätte als Kühlwasserquelle gedient, die geografische Nähe war insgesamt inakzeptabel und provozierte daher den Widerstand geradezu.

Es war ein großes Verdienst der Vorarlberger Nach-Fußach-Aktivisten, den Protest gegen das geplante Schweizer Atomkraftwerk selbst in die Hand zu nehmen. Das war Grün-Politik zu einer Zeit, als es noch gar keine Grünen gab. Dafür kam sie aus dem Volk.

Es war das Erfolgsgeheimnis der Anti-Atomkraft-Bewegung in Vorarlberg, dass sie alle gesellschaftlichen Bereiche von der Vorarlberger Industriellenvereinigung bis zur katholischen Kirche, von den Gewerkschaftern bis zur regionalen SPÖ erfasste. Das war eine kraftvolle Bürgerbewegung, die dann von zentraler Bedeutung war, als es zur Zwentendorf-Volksabstimmung im November 1978 kam.

Im Industrieland Vorarlberg sprachen sich 84 Prozent gegen die Atomkraft aus, österreichweit überwogen die 1,6 Millionen Neinstimmen die Jastimmen mit 30.000. In Vorarlberg standen 19.000 Jastimmen gleich 107.000 Neinstimmen gegenüber. Das knappe 50,5-Prozent-Nein wurde möglich und ist für Österreich bis heute Ausgangspunkt für eine glaubwürdige Anti-Atom-Politik.

Entscheidende Intervention

Eine Bürgerbewegung, getragen von Menschen, die ihre Anliegen schon bei einer Schiffstaufe selbst in die Hand nahmen, durfte ihr Gewicht in die Waagschale werfen, als eine wirtschaftspolitische Entscheidung erster Ordnung anstand. Paternalistisch agierende ältere Herren haben eine Bürgerbewegung orchestriert und mitgewirkt, dass Österreich einen eigenen Weg in der Energiepolitik einschlug.

Diese entscheidendste Intervention in die Umweltpolitik war in erster Linie ein Verdienst der Menschen.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

DER AUTOR



Bernhard Löhri,
(*1953) absolvierte die Wirtschaftsuni Wien. Die beruflichen Stationen konfrontierten ihn mit Fragen der Managementaus- und -weiterbildung und der Organisationsentwicklung in Management und Politik – national und international. Letzteres im Rahmen von Missionen des Rates der EU auf dem Westbalkan. [ Privat]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.11.2014)

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