Deutschlands viele hilflose Kommissare

Die deutsche Krimiserie „Tatort“ zeigt neuerdings eine Welt, in der die Polizei immer schwächer, die Verbrecher immer stärker werden. In dieser Welt haben die Ermittler meistens viel größere Probleme als ihre Klienten.

Was wurde aus dem deutschen Kommissar? Früher, man erinnere sich an den „Alten“, oder an den „Tatort“ bis vor kurzer Zeit, gewann das Recht. Der Kommissar war im Recht, er repräsentierte das Recht – und wenn es sehr schwer war, weil der Gegner sehr mächtig war, dann gewann er trotzdem.

Siegfried Lowitz hatte Recht. Er war das Recht. Er kannte das Recht, und es war der Beschluss einer ganzen Generation nie, unter keinen Umständen, die Wahrheit zu sagen. Denn der Täter neigte dazu, im letzten Moment zu gestehen, wenn er dachte, dass er den Alten gleich erschießen würde und sein Herz noch erleichtern wollte. Dann kam der Assistent von rückwärts und der Täter ging in Haft.

Durch die großen Brillen Horst Tapperts schienen das Recht, die Gerechtigkeit und siegten. Es wurde nicht thematisiert, ob durch die Ergreifung des Täters das Übel mit der Wurzel ausgerissen wurde. Derrick musste sich nicht mit stark/schwach auseinandersetzen. Er hatte es mit Einzeltätern zu tun, die meistens aus Gier oder Eifersucht getötet hatten.

Die großen Täter im Visier

Ihre gesellschaftliche Stellung war oft hoch, die kleinen Täter waren Derricks Sache nicht. So ging es auch Columbo. Die größten Hollywood-Tycoons, die mächtigsten Männer waren seine Feinde. Sie fühlten sich unangreifbar, und der kleine Inspektor in seinem Staubmantel und dem kaputten Peugeot schien ihnen unterlegen zu sein. Sie fielen auf seine Geschichten über seine Frau hinein, sie hielten ihre Pläne für undurchschaubar.

Aber es waren immer Einzeltäter, die entweder ihre reiche Frau umbringen wollten, Rache nahmen oder sich vom Mord Vorteile versprachen. Wie auch immer: Columbo war ein kleiner Held, der immer gewann und so für Recht und Ordnung sorgte.

Nun hat sich aber etwas geändert: Die Tatort-Kommissare versagen. Sie versagen angesichts der Macht der Mafia, angesichts ihrer eigenen Schwäche, oder sie werden einfach vorgeführt, wie Ulrich Tukur in „Im Schmerz geboren“ (ausgestrahlt am 15. November). Tukur wird von seinem von ihm verratenen Jugendfreund, mit dem er gemeinsam die Ausbildung gemacht hatte, vorgeführt. Bis zur Opferung des Sohns von Tukur, den dieser selbst erschießt, ist der Kriminalkommissar der Vorgeführte. Er ist der Dumme, Schwache, Verlierer – insbesondere, als er die Waffe in der Hand hält. So soll er den Schmerz des Tötens erleben.

In „Winternebel“ (5. Oktober) schießt ein Kommissar auf einen flüchtenden Täter. Er hat mit allem Recht. Er erkennt, dass es sich wieder um dieselbe Bande von Entführern handelt, die er schon vor Jahren nicht erwischt hatte. Er erkennt, dass es brutale Mörder sind. Trotzdem wird er des voreiligen Waffengebrauchs verdächtigt.

Die Behinderung durch die Vorschriften und die grenzüberschreitende Problematik zeigen eine Polizei, die eigentlich wehrlos ist. Nur durch Verkettung glücklicher Umstände können sie in letzter Sekunde das Opfer retten. Die Bestrafung der Täter unterbleibt, nur der Getötete hat seine gerechte Strafe erhalten.

Der Gipfel ist mit „Blackout“ (26. Oktober) erreicht. Die Kommissarin ist eklig, unprofessionell, einsam, ohne Hoffnungen. Sie fürchtet, einsam zu sterben, Tage in der Wohnung liegen zu bleiben und dann – man höre und staune – von der hungrigen Katze angefressen zu werden. Es fehlt nur der Witz, dass ihr jemand antwortet: Katzen essen kein Aas!

Frau Lena Odenthal ist vielleicht sehr deutsch, sie arbeitet immer. So viel, dass sogar ihr Kollege Mario Kopper sie nach einem Beinahe-Verkehrsunfall beschimpft, sie glaube wohl, dass es ohne sie nicht gehe. Immer kommt sie zu spät. Der Tatort beginnt damit, dass sie zu einem Erhängten kommt, den sie zu spät entdeckt. Sie wird noch weitere Opfer finden.

Falscher Verdacht

Jedesmal verdächtigt sie den/die Falsche. Die Witwe eines Mordopfers treibt sie beinahe in den Selbstmord. Selbst die Mörderin kann sie nicht retten. Der Mörder überlebt, wird verhaftet, der Kommissarin ist schwindlig, sie legt sich wie ein Baby neben das letzte Opfer und weint.

Am 23. November („Eine Frage des Gewissens“) dann ein weiterer Höhepunkt: Der Kommissar erschießt einen jungen Menschen, der einen Supermarkt überfällt. Im Gegensatz zu US-Serien warnt er ihn drei Mal. Fast wollte man ihm zurufen: „Schieß endlich, sonst erschießt er dich oder die Geisel!“

Aber jetzt kommt's: Nicht der Täter, der Polizist, wird auf die Anklagebank geführt. Sein Helfer ist nach einer Scheidung Alkoholiker und säuft heimlich und unheimlich. Klar, dass dem Kommissar keiner gratuliert, klar, dass der Staatsanwalt den Opfervertreter fast bevorzugt. Erst durch eine Wendung des Drehbuchs stellt sich heraus, dass dieser Anwalt einst ein Mädchen vergewaltigt hat. Der Film endet mit himmlischer Bestrafung: Die Frau des Anwalts erschießt sich, die beiden Polizisten sind verzweifelt, aber kollegial zieht sich der Hauptkommissar eine kleine, lächerliche Schürze an und wäscht das Geschirr ab. Jetzt wissen wir es: Wenigstens das dürfen Polizisten noch, ohne verurteilt zu werden.

Was wird hier an gesellschaftlicher Änderung abgebildet? Ist es so, dass Polizei und Justiz gegen das weltweit vernetzte Verbrechen keine Chance mehr haben? Ist es so, dass die Regeln, die der Polizeiarbeit auferlegt werden, diese fast unmöglich gemacht haben? Ist es so, dass der Staat dem Bürger keine Rechtssicherheit mehr garantieren kann? Oder ist es der Wunsch der „Tatort“-Produzenten, dass der Zuseher verwirrt wird, unsicher und verängstigt?

Heile österreichische Welt

Die heile österreichische Welt kennt diese Art der Schwäche kaum. Weder in „SOKO Donau“ noch in „Schnell ermittelt“ versagen die Kommissare. Wenn auch Sonderermittlerin Schnell von ihrem eigenen, intriganten Oberst fast erschossen wurde, nun ist sie wieder am Damm und klärt, was zu klären ist. Sie hat Krisen durchgemacht, sich in einen Frauenmörder verliebt – aber sie hat sich von allem erholt. Sicher, es geht nicht so glatt wie einst. Sie hat ein Privatleben, sie will begehrt sein, und ihr Leben gehört nicht ausschließlich der Gerechtigkeit. Aber fast. Jedenfalls gewinnt sie. Und da sie sich ohnehin nicht an Regeln hält, wurde sie Sonderermittlerin und steht quasi über den Regeln.

Es erschiene lohnenswert zu überprüfen, warum der deutsche Kommissar so hilflos geworden ist, wenn er auch bereit ist, immer zu arbeiten, selbst wenn er unzuständig, krank und leidend ist. Er ist der Schwache, Unterlegene und letzten Endes siegt die Ungerechtigkeit und das Böse. Das soll und darf beunruhigen. Diese Welt ist unübersichtlich, unbeherrschbar geworden. Das Böse ist stärker als das Gute, und die, die dennoch an das Gute glauben, werden des Gutmenschentums geziehen. So schaut dann auch das Dienstjubiläum einer deutschen Kommissarin aus: Sie leidet an Burn-out und bringt sich und andere in Gefahr.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.11.2014)

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