Menschenrechtslage 2014: Die komplexe Realität

In Wien startet heute ein Forschungszentrum für Menschenrechte. Kann es zur Umsetzung der Menschenrechte beitragen?

Menschenrechtliche Themen werden im gesellschaftlichen Diskurs oft undifferenziert und verkürzt behandelt. Bei Fragen von Rechten von in Europa Schutzsuchenden werden oft Ängste von „Massenzuwanderung“ geschürt. In Zusammenhang mit Bettlern ist immer wieder von einer geheimnisvollen „Bettelmafia“ die Rede. Geht es um die Rechte von Straffälligen, bekommt man oft den Eindruck, eine adäquate Strafe müsse von möglichst widrigen Strafbedingungen begleitet sein, um effektiv zu sein.

Gefährlich an der vereinfachten Darstellung dieser Sachverhalte ist, dass auch die Lösungen einfach scheinen: Grenzen dicht machen, Betteln verbieten, Straffällige möglichst lange wegsperren.

Die Realität ist aber ungleich komplexer, und informierte politische Entscheidungen brauchen differenzierte und faktenbasierte Grundlagen. Genau die kann interdisziplinäre Menschenrechtsforschung bieten.

Heute Abend eröffnet die Universität Wien ein interdisziplinäres Forschungszentrum Menschenrechte – mit einer Diskussion zur Frage „Menschenrechte hinter Gittern?“. Der Schutz von Häftlingen gegen Folter, Misshandlung und Vernachlässigung ist ein Thema, das mir als ehemaligem UNO-Sonderberichterstatter über Folter sehr am Herzen liegt. Es freut mich daher besonders, dass auch Justizminister Wolfgang Brandstetter bei diesem Anlass einen Vortrag zu diesem wichtigen und schwierigen Thema halten wird.

Vernetzung der Initiativen

Der internationale Tag der Menschenrechte erinnert an die Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte am 10.Dezember 1948. Seither hat sich vieles zum Positiven gewandelt – sei es in Form eines verbesserten faktischen Menschenrechtsschutzes oder einer stärkeren Einbindung der Zivilgesellschaft. Zugleich müssen sich Nationalstaaten neuen Herausforderungen stellen: den quasi unregulierten Finanzmärkten, den Auswirkungen der wirtschaftlichen Krise und der europäischen Austeritätspolitik, um nur ein paar Beispiele zu nennen.

In den vergangenen Jahren hat sich die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit alten und neuen Themen wie Migration und Asyl, Gender-Gleichberechtigung, Altern, Behinderung, dem Einfluss der Religionen auf Gesellschaft und Politik, Armutsforschung, Datenschutz, Gewalt in der Familie, Meinungsfreiheit im Internet oder der menschenrechtlichen Verantwortung von Konzernen in Zeiten der Globalisierung intensiviert.

Um diese Initiativen besser zu vernetzen, hat die Universität Wien das interdisziplinäre Forschungszentrum Menschenrechte eingerichtet. Organisatorisch an der rechtswissenschaftlichen Fakultät angesiedelt, bietet es Wissenschaftlern aus unterschiedlichsten Disziplinen die Möglichkeit, gemeinsam zu forschen.

Derzeit arbeiten wir an der Entwicklung größerer Projekte zur Methodik der interdisziplinären Menschenrechtsforschung, zu globaler Gerechtigkeit und der Rolle der EU, zum Verhältnis zwischen universellen Menschenrechten und ökonomischer Globalisierung und zur politischen Partizipation in der arabischen Welt.

Außerdem wollen wir eine „Human Rights Clinic“ einrichten, damit Studierende an der Universität Wien künftig wie in den USA, in Deutschland oder in Frankreich frühzeitig praktische Erfahrung mit konkreten Fällen und der gerichtlichen Durchsetzung von Menschenrechten sammeln können. Zugleich werden sie für soziale Fragen und gesellschaftliche Verantwortung sensibilisiert.

Ein Beispiel aus der Praxis veranschaulicht: Nur wenn komplexe Zusammenhänge aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet und verstanden werden, können wirksame gesetzgebende oder politische Maßnahmen (weiter-)entwickelt werden.

Unangekündigte Besuche

Seit Schaffung des sogenannten nationalen Präventionsmechanismus in Durchführung der UNO-Konvention gegen die Folter im Jahr 2012 gibt es in Österreich sechs regionale Kommissionen, die im Jahr rund 500 unangekündigte Besuche in Polizeidienststellen, Gefängnissen, psychiatrischen Einrichtungen, Alters- und Pflegeheimen, Jugendheimen oder Einrichtungen für Menschen mit Behinderung durchführen und mit den dort untergebrachten Menschen vertrauliche Gespräche über ihre Behandlung führen.

Die Kommissionen bestehen aus Angehörigen unterschiedlicher Berufe und wissenschaftlicher Disziplinen wie Medizin, Psychiatrie, Pflegewissenschaft, Sozialarbeit, Psychologie oder des Justizwesens. Unsere Aufgabe besteht darin, die Situation in den besuchten Institutionen aus unterschiedlichen Blickwinkeln heraus zu bewerten und eine gemeinsame menschenrechtliche Beurteilung abzugeben. Dann senden wir unsere Berichte und Beurteilungen an die Volksanwaltschaft, die wiederum auf Grundlage dieser Berichte konkrete Empfehlungen an die zuständigen Ministerien richtet.

Der Zweck des Strafvollzugs

Um zu einem gemeinsamen Ansatz und zu gemeinsamen menschenrechtlichen Standards zu kommen, ist auch hier interdisziplinäre Menschenrechtsforschung dringend erforderlich.

2013 war ein Themenschwerpunkt der Straf- und Maßnahmenvollzug. Wir haben generell, insbesondere aber im Hinblick auf Menschen mit psychischen Krankheiten strukturelle Mängel festgestellt und entsprechende Reformen gefordert. Aus internationalen Menschenrechtskonventionen folgt, dass der Zweck des Strafvollzugs primär darin bestehen soll, verurteilten Straftätern durch entsprechende Beschäftigungs-, Bildungs- und Freizeitaktivitäten während Verbüßung ihrer Strafe die bestmöglichen Chancen auf eine Rehabilitierung und Wiedereingliederung in die Gesellschaft zu bieten.

Das Prinzip der „Normalisierung“ besagt, dass die Bedingungen in der Strafhaft so weit wie möglich den Lebensbedingungen in der Freiheit angepasst werden sollten, und dass die Häftlinge alle Menschenrechte – soweit dies in einer geschlossenen Anstalt möglich ist – ausüben und leben können. Dies dient auch der Allgemeinheit: Die Gefahr eines Rückfalls in die Kriminalität nach der Entlassung sinkt, was auch statistisch belegt ist.

Österreichs traurige Realität

Die traurige Realität in den meisten österreichischen Strafvollzugsanstalten ist von diesem menschenrechtlichen Ideal noch weit entfernt. Es fehlt nicht nur an den erforderlichen finanziellen und personellen Ressourcen, sondern auch an einem entsprechenden Bewusstsein für die Anforderungen an einen modernen Strafvollzug.

Vielleicht gelingt es, durch die unabhängige und engagierte interdisziplinäre Menschenrechtsforschung an der Universität auch hier Impulse für die Schaffung eines entsprechenden Bewusstseins und für innovative Reformen zu geben.

Das Zentrum für Menschenrechtsforschung wird heute, Dienstag, um 19 Uhr in der Aula auf dem Campus der Universität Wien eröffnet. Um Anmeldung wird gebeten:
humanrightstalk@univie.ac.at


E-Mails an: debatte@diepresse.com

DER AUTOR



Manfred Nowak
(*1950 in Bad Aussee) studierte Rechtswissenschaften in Wien. Seit 2011 ist er Professor für Internationales Recht und Menschenrechte an der Universität Wien. Er leitet auch das neue Forschungszentrum Menschenrechte. Von 2004 bis 2010 war er UN-Sonderberichterstatter über Folter. [ C. Fabry ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.12.2014)

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