Vom unheilvollen Drang, Tabubruch zu begehen

Hinter den jüngsten Morden in Paris steckt mehr als die verletzten Gefühle von entwurzelten muslimischen Männern.

Der niederländische Filmemacher Theo van Gogh, der vor etwas über zehn Jahren von einem radikalen Muslim in Amsterdam ermordet wurde, hatte vieles mit den Satirikern von „Charlie Hebdo“ gemeinsam. Wie die französischen Redakteure und Karikaturisten war er ein Provokateur, ein moralischer Anarchist, der mit seinen Arbeiten schockiert hat und für den es kein Tabu gab, das er nicht brechen wollte.

Weil Antisemitismus das große Tabu im Europa der Nachkriegszeit ist, hat van Gogh Juden mit derben Witzen über Gaskammern beleidigt. Weil von uns erwartet wird, den Islam zu „respektieren“, hat er Allah und seinen Propheten verspottet – ganz ähnlich wie „Charlie Hebdo“.
Tabubrecher wollen herausfinden, an welchem Punkt die Grenzen der Meinungsfreiheit rechtlich und gesellschaftlich überschritten werden. Entgegen aller Behauptungen, die in der aufgebrachten Atmosphäre nach den grausamen Morden in Paris vorgebracht wurden, ist das Recht auf freie Meinungsäußerung nicht uneingeschränkt. In den meisten europäischen Ländern gibt es Gesetze gegen Volksverhetzung – so auch in Frankreich, wo es verboten ist, die Existenz des Holocaust zu leugnen.

Gesellschaftliche Schranken

Meinungsfreiheit ist tatsächlich relativ. Ein Künstler oder Schriftsteller kann Dinge sagen, die  ein Richter oder Politiker nicht aussprechen darf. Würde ein Weißer die Sprache verwenden, der sich Afroamerikaner bisweilen im Gespräch untereinander bedienen, wäre dies grob beleidigend. Und so weiter. Durch einfache Gebote der Höflichkeit entstehen gesellschaftliche Schranken, die uns daran hindern, alles zu sagen, was wir wollen.

Es ist Aufgabe von Provokateuren, diese gesellschaftlichen Schranken durch gezielte Unverschämtheit zu hinterfragen. Es sollte Raum sein für solche Ikonoklasten, in den Künsten und an der Peripherie des Journalismus, und sie sollten ganz gewiss keinen gewalttätigen Angriffen ausgesetzt sein.

Aber Theo van Gogh oder „Charlie Hebdo“ mit „Demokratie“ oder „westlicher Zivilisation“ gleichzusetzen, scheint zu hoch gegriffen. Man könnte genauso gut behaupten, dass al-Qaida im Jemen für die orientalische oder islamische Zivilisation steht.

Westliche Zivilisation ist ohnehin ein eher schwammiger Begriff. Ist damit griechisch-römisch, oder christlich oder sogar jüdisch-christlich gemeint? Oder die Aufklärung? Wenn ja, welche Aufklärung? Voltaire? De Sade? Adam Smith? Haben Faschismus und Kommunismus nicht zur westlichen Zivilisation gehört?

Auf jeden Fall ist der Drang, Tabubruch zu begehen, nicht auf den Westen beschränkt. Und die Kultur der Beleidigung und Provokation ist in mancherlei Hinsicht das Gegenteil der tatsächlichen Funktionsweise von Demokratie. Demokratie, im Westen oder anderswo, basiert auf der Bereitschaft, Kompromisse einzugehen und Interessenkonflikte friedlich im Rahmen der Rechtsstaatlichkeit zu lösen. Damit Demokratie funktioniert, müssen Bürger bereit sein, zu geben und zu nehmen.

Das bedeutet auch, dass wir uns in einer zivilisierten Gesellschaft einverstanden erklären, mit kulturellen oder religiösen Unterschieden zu leben, ohne vorsätzlich jene zu beleidigen, deren Werte wir nicht teilen.
Dabei handelt es sich weder um einen feigen Pakt mit dem Bösen noch einen Verzicht auf Meinungsfreiheit. Es bedeutet auch nicht Prinzipienlosigkeit, wie manche behaupten. Toleranz ist kein Zeichen von Schwäche. Was Toleranz zeigt, ist das Widerstreben, gesellschaftliche Werte als allgemeingültig zu betrachten oder die Welt in Gut und Böse aufzuteilen.

Gewalt ist nicht akzeptabel

Aber nicht einmal Toleranz ist bedingungslos: Eine Sache, die keine demokratische Gesellschaft akzeptieren kann, ist die Anwendung von Gewalt, um die eigenen Ansichten durchzusetzen – egal, ob religiös, politisch oder eine Kombination aus beiden.

Wir können nur Vermutungen anstellen, welche psychologischen Beweggründe die Männer hatten, die die Redakteure und Zeichner von „Charlie Hebdo“ ermordet haben; oder der Mann, der Geiseln genommen hat und vier von ihnen in einem koscheren Supermarkt getötet hat. Vielleicht waren sie klägliche Verlierer, die ihre jugendlichen Träume von Mädchen, Fußball und schnellem Geld aufgegeben und sich dem Heiligen Krieg zugewendet haben.

Dies scheint bei vielen der sogenannten Homegrown-Jihadisten, die im Land des Anschlagsziels aufgewachsen sind, der Fall zu sein, so auch beim Mörder von Theo van Gogh. Sie wären nicht die ersten verwundbaren Jugendlichen, die sich einer revolutionären Sache verschreiben, um sich ein Gefühl von Macht und Zugehörigkeit zu verschaffen. Über die politischen Motive gewalttätiger revolutionärer Gruppen, die solche jungen Männer und Frauen rekrutieren, um die Morde von ihnen begehen zu lassen, wissen wir mehr.

Verhasste Kompromisse

Einige behaupten, dass Blasphemie oder Spott über den Propheten der Hauptgrund für den Anschlag auf „Charlie Hebdo“ und die Ermordung von Theo van Gogh gewesen sei. Das bezweifle ich. Es ist wahr, dass viele Muslime blasphemische Filme oder Karikaturen als Beleidigung empfinden können. Es steckt jedoch mehr hinter den Morden als verletzte Gefühle.

Die brutale Einschüchterung von Kritikern ist nur eines der Ziele revolutionärer Gruppen. Was Revolutionäre am meisten hassen, sind nicht die Angriffe ihrer Feinde, sondern die notwendigen Kompromisse, das Geben und Nehmen, die Verhandlungen und Anpassungen, die mit dem Leben in einer liberalen Demokratie einhergehen. Ihr wichtigstes Ziel ist es, mehr Rekruten für ihre Sache zu gewinnen.

Wenn es sich um Islamisten handelt, müssen sie versuchen, friedliche, gesetzestreue Muslime zu zwingen, aufzuhören, Kompromisse mit säkularen Gesellschaften einzugehen, in denen sie leben. Sie brauchen mehr Gotteskrieger.

Die beste Methode dies zu erreichen besteht darin, einen „Backlash“ zu provozieren, also die Stimmung gegen Muslime aufzuheizen, indem Angriffe auf symbolträchtige Ziele wie die Zwillingstürme in New York, einen berüchtigten Filmemacher in Amsterdam oder eine umstrittene Satirezeitschrift in Paris verübt werden. Je mehr Muslime in Europa sich Angst und Ablehnung gegenübersehen, je mehr sie sich von der nichtmuslimischen Mehrheit belagert fühlen, desto wahrscheinlicher werden sie die Extremisten unterstützen.

Muslime als Verbündete

Wenn wir aus den tödlichen Anschlägen der letzten Woche die Schlussfolgerung ziehen, dass sich der Islam im Krieg mit dem Westen befindet, haben die Jihadisten einen wichtigen Sieg errungen. Wenn wir die friedliche Mehrheit der Muslime als unsere Verbündete gegen revolutionäre Gewalt begreifen und sie als gleichberechtigte Mitbürger behandeln, werden unsere Demokratien gestärkt daraus hervorgehen.

Aus dem Englischen von Sandra Pontow.
Copyright: Project Syndicate, 2015.

Ian Buruma (*28.?12.?1951 in Den Haag) studierte chinesische Literatur in Leiden und japanischen Film in Tokio. 2003 wurde er Professor für Demokratie und Menschenrechte am Bard College in New York; 2008 mit dem Erasmus-Preis ausgezeichnet. Zahlreiche Publikationen. Zuletzt ist in diesem Jahr sein Buch erschienen: „Year Zero: A History of 1945“.

Ian Buruma (*28.?12.?1951 in Den Haag) studierte chinesische Literatur in Leiden und japanischen Film in Tokio. 2003 wurde er Professor für Demokratie und Menschenrechte am Bard College in New York; 2008 mit dem Erasmus-Preis ausgezeichnet. Zahlreiche Publikationen. Zuletzt ist in diesem Jahr sein Buch erschienen: „Year Zero: A History of 1945“.

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