Bekenntnisse eines Deflation-Ängstlichen

Ein „Presse“-Redakteur hat unlängst die Leser gewarnt, wegen einer Deflation nur ja nicht in Panik zu geraten. Es gibt aber ein paar gute Gründe, sie vielleicht doch zu fürchten – wie das ja auch der „Economist“ oder der IWF tun.

Niemand müsse die Deflation fürchten“, hat Nikolaus Jilch die „Presse“-Leser am 8. Jänner vor herrschender Deflationspanik gewarnt. „Panik“ ist in der Tat verfehlt: Kritische Deflation – eine Abwärtsspirale, bei der sinkendes Wirtschaftswachstum und steigende Arbeitslosigkeit einander wechselseitig verstärken – ist in der Eurozone vorerst nicht gegeben. Dies aber nicht einmal zu fürchten, halte ich – wie auch der britische „Economist“ oder die „Financial Times“, der Internationale Währungsfonds oder die Europäische Zentralbank – für unvorsichtig.

Jilch unterscheidet zwischen guter und schlechter Deflation und sieht nur gute: Der Preisrückgang im Süden der Eurozone, so folgt er der Argumentation des ehemaligen EZB-Chefvolkswirts Jürgen Stark, sei „unvermeidlich, weil das Preisniveau in Krisenländern wie Griechenland sich anpassen muss“. Es handle sich also in Wahrheit um einen „Gesundungsprozess“.

Traue keinen Wachstumsraten

Elemente einer solchen Gesundung sehe ich auch: So sind überall im Süden die überhöhten Löhne gesunken, was voran Dienstleistungen verbilligt hat. Schon zuvor hat das Platzen der Immo-Blase die Wohnungs- und damit Mietpreise abstürzen lassen. Letzteres hat die Inflationsrate am meisten gesenkt, signalisiert aber leider kein gestärktes Wirtschaftsgeschehen.

Allerdings werden aus dem Süden derzeit durchwegs positive Wachstumsraten gemeldet. Nur beherzige ich bei deren Beurteilung den Ratschlag von Josef Urschitz: „Traue keiner Wachstumsrate, die du nicht selbst nachgerechnet hast.“ Wachstumsraten errechnen sich, indem man vom nominellen Wachstum die Inflationsrate abzieht. Ist die dank Deflation negativ, so bedeutet das mathematisch, dass man sie addieren muss. Hohe Deflationsraten können den Volkswirtschaften des Südens daher unschwer erstaunliche Wachstumsraten bescheinigen.

In Summe: Starks These eines „Gesundungsprozesses“ im Süden scheint mir vorerst noch ziemlich optimistisch – obwohl auch ich hoffe, dass zumindest Spanien über die Talsohle ist. Mehr als auf Stark stützt sich Jilch bei seiner Argumentation von der Gefahrlosigkeit der Deflation indes auf den Ölpreisverfall. Der hat drei Wurzeln:
Fracking, von dem ich, wie Jilch, glaube, dass es die wirtschaftliche Erholung befördern wird.
Die Weigerung der Saudis, ihre Ölförderung zu kürzen, die ich für nur vorübergehend halte.
Last but not least: die schwache Nachfrage aufgrund der schwachen wirtschaftlichen Entwicklung, die Urschitz einmal mehr so besorgt wie ich einschätzt. Um Artefakte bereinigt, kann er in der Eurozone bereits seit Jahren kein Wachstum mehr sehen. Woraus zumindest ich doch die Gefahr einer Deflation ableite.

Genügen 0,6 Prozent Inflation?

Bei der Berechnung der Deflation schlägt der Ölpreis mit –0,8 Prozent zu Buche. Eliminiert man ihn aus der Inflationsrate der Eurozone von –0,2, so gibt es tatsächlich keine Deflation mehr: Es verbleibt eine Inflationsrate von +0,6 Prozent. Aber muss sich deshalb tatsächlich niemand vor Deflation fürchten?

Ich bemühe für die Antwort einen Ökonomen, der bei der „Presse“ hoch im Kurs steht, nämlich Hans Werner Sinn: „Die Euro-11-Länder brauchen ein Inflationsziel von ungefähr 2,5 Prozent und darüber. Wollte man diese Inflation durch eine restriktive Geldpolitik unterbinden, so werden einige Länder zu einer zu niedrigen Inflationsrate oder gar in eine Deflation getrieben.“

Sinn wird natürlich sagen, dass sich die Situation jetzt geändert habe. Aber vielleicht findet Jilch es nicht mehr ganz so abwegig, dass die EZB in einer ölpreisbereinigten Inflationsrate von nur noch 0,6 Prozent die Gefahr einer Deflation fürchtet. Im zweiten Teil seines Textes spricht sich Jilch vehement gegen die lockere Geldpolitik der EZB und schon gar Quantitativ Easing (eine Geldpolitik der Zentralbanken für außergewöhnliche Umstände, mit der die Geldbasis ausgeweitet wird, um die Realzinsen zu senken) aus: „Das billige Geld fließt verstärkt in die Finanzmärkte und nicht in die Realwirtschaft. Die Zentralbanken heizen schon die nächste (Aktien-)Blase an.“

Geld ist nicht gleich Nachfrage

Als Gefahr sehe ich das auch. Aber noch hält sich das Durchschnitts-KGV (Kurs-Gewinn-Verhältnis) der Eurostocks 50 mit 15,9 in historischen Grenzen (2000 lag es bei 23,5). Und gestiegene Kurse erleichtern Unternehmen sehr wohl auch real die Finanzierung von Investitionen – wenn auch in den Vereinigten Staaten mehr als bei uns. Bei uns finanzieren nämlich vorwiegend Banken. Sie, nicht die EZB, schöpfen 90 Prozent der umlaufenden Geldmenge M3.

Ihre anhaltende Zurückhaltung bei der Vergabe von Krediten ist der simple Grund dafür, dass es trotz des billigen Zentralbankgeldes entgegen den Sorgen deutscher Ökonomen nicht zur Inflation gekommen ist. Präziser: Ein höheres Preisniveau – Inflation – ergibt sich, wenn die Nachfrage das Angebot übersteigt.

50 billige Milliarden im Rahmen einer geldpolitischen Maßnahme der Notenbank sind aber keineswegs 50 Milliarden mehr Nachfrage – die Banken haben nur die Möglichkeit, dieses Geld zusätzlich von ihr zu borgen. Doch sie borgen es nur in dem Ausmaß, in dem sie es brauchen, um vermehrte Kreditwünsche ihre Kunden zu befriedigen.

Wichtigstes Merkmal der aktuellen Krise ist leider, dass weder Private noch Unternehmer nach Krediten gieren. Daher wird nur ein Bruchteil des möglichen Zentralbankgeldes auch nachfragewirksam. Zudem steigert es die Preise nur, wenn das Warenangebot keine beliebig vermehrbare Größe ist: definitionsgemäß bei Aktien. Aber auch bei Nahrung oder Immobilien, denn weder Ackerboden noch City-Baugrund ist beliebig vermehrbar.

Überangebot an Waren

Bei den meisten Waren ist es freilich umgekehrt: Es gehört zum Wesen der aktuellen Krise, dass es davon ein Überangebot gibt. Weil so viele Autos bereits auf Halde stehen, unterbieten einander die Händler im Preis. Ähnliches gilt derzeit für fast alle industriell gefertigten Güter und ist sehr wohl ein erheblicher Teil der aktuellen Deflation.

Billiges Zentralbankgeld hat offenbar nicht ausgereicht, um mehr Nachfrage zu kreieren. Weder sind Konsumenten für Einkaufskredite noch Unternehmer für Investitionskredite Schlange gestanden. Daher will die EZB den Banken jetzt Anleihen abkaufen, damit das Geld direkt auf ihren Konten landet. Wieder in der Hoffnung, dass das zu mehr Kreditverträgen führt.

Ich halte diese Hoffnung angesichts des Sparpaktes zwar für übertrieben, aber in jedem Fall sind die Banken gegen Stress gestärkt. Quantitativ Easing scheint mir daher weder abwegig noch zwingend inflationär: Die Bank of England übt Quantativ Easing seit einem Jahr, die FED seit drei Jahren. Ohne gefährliche Inflation. Aber mit deutlich mehr Wachstum und deutlich weniger Arbeitslosen.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

DER AUTOR



Peter Michael Lingens
(*1939) ist Journalist und Autor in Wien. Er arbeitete zuerst bei der „Arbeiter-Zeitung, dann beim „Kurier“. 1970 wird er Mitbegründer und Herausgeber des „Profils“, ab 1990 der „Wirtschaftswoche“. Er schreibt bis heute eine Kolumne für das „Profil“. Lingens lebt mit seiner Familie in Österreich und Spanien. [ Clemens Fabry]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.02.2015)

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