Pfeifen wir doch auf das Fegefeuer der Austerität!

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Die Tsipras-Regierung ist nicht die Retterin Europas. Aber die von ihr gestellten Fragen bieten die Chance auf neue Antworten.

Für ein angeblich säkulares Jahrhundert sind die gegenwärtigen Zeiten sehr religionsgesättigt. Europas Kirchen mögen leer sein, aber eine andere Heilslehre überzieht den Kontinent und verspricht ein fernes Paradies. Der Marktextremismus (fälschlicherweise Neoliberalismus genannt) verspricht die Erlösung von Schuld(en), wenn wir davor nur genug gelitten hätten.

Entsprechend entsetzt sind die Reaktionen auf die Ansage der neuen Regierung von Alexis Tsipras in Griechenland, man gedenke, die Wahlversprechen einzuhalten und Leiden zu lindern. Horribile dictu! Zum Ausgleich entdeckt die Linke dafür wieder einen neuen Heilsbringer, was ebenfalls bestätigt, dass die angebliche Rationalität diverser Theorien eher eschatologisch geprägt ist. Im Lichte dieser Vorgänge wird die Fehlkonstruktion von EU und Euro-Zone wieder deutlich sichtbar.

Gemessen am Sturm der Entrüstung, der durch den EU-Blätterwald rauschte, muss die Tsipras-Regierung eine ungeheure Blasphemie begangen haben. Dass die EU-Gremien mit Empörung reagierten, ist klar bei einem Angriff auf den wichtigsten Glaubensgrundsatz: zu sparen, bis die Schwarte kracht (subsumiert unter dem religiösen Begriff Austerität), was angeblich zur Heilung des Patienten führen soll.

Je größer die Leiden...

Wie leicht zu erkennen ist, lümmelt diese Theorie in Nähe zur Eschatologie (im alttestamentarischen Sinn einer Heilsankündigung) herum. Unleugbar auch die Affinität zum katholischen Purgatorium: der sündige Mensch, der gevöllert hat (zu hohe Staatsschulden), muss durch reinigende Qualen (Hunger, Rentenkürzungen) des Fegefeuers (EU-Troika), um seine Seele zu retten und geläutert (schuldenfrei) im Paradies (Aufschwung) zu landen. Je größer die Leiden, umso paradiesischer das Paradies. Dass gerade Frau Angela Merkel, Tochter eines Pastors, das von den Protestanten abgelehnte Fegefeuer besonders nachhaltig einfordert, ist nicht ohne Ironie. Austeritätspolitik als Glaubensbekenntnis der Maastricht-Sekte.

Längst ist vergessen, dass die Maastricht-Dogmen eine triviale Basis jenseits wissenschaftlicher Erkenntnisse oder evidenzbasierter Daten hatten. Sie sind Ergebnis einer hingetrimmten Durchschnittsrechnung des damaligen Status quo zwecks Teilnahmemöglichkeit der meisten EU-Staaten am Euro. Die Maastricht-Kriterien wurden willkürlich politisch festgelegt und werden seit damals – auch hier kein Vorbeikommen an der Bibel – angebetet wie einst das Goldene Kalb.

Die Festlegung dieser Kriterien war eine Dummheit sondergleichen, das dämmert manchen langsam, denn man hat so den Spekulanten (irrtümlich „Finanzmärkte“ genannt) eine Gratisanleitung geliefert, wann Angriffe auf die neue Währung angesagt sind.

Besonders schräg sind die Aufforderungen europäischer Politiker, Syriza möge bald den Bruch der Wahlversprechen verlautbaren. O-Ton Juncker: „Man wird nicht alles ändern wegen eines Wahlresultats.“ Wie viele Wahlresultate braucht die EU, um eine Politik zu ändern, die von der Bevölkerung nicht mehr akzeptiert wird? Will Juncker die These stützen, dass „Wahlen längst abgeschafft wären, wenn sie etwas ändern könnten“?

Wahlen haben in der Tat wenig Wirkung auf die europäische Politik. Der Webfehler einer Währungsunion ohne politische Union ist das Grundproblem, mit dem wir folglich konfrontiert sind. Eine gemeinsame Währung ist nicht handhabbar ohne politische Union mit demokratischen Institutionen, die diesen Namen verdienen.

Welche europäischen Werte?

Unerträglich: Herr Draghi trifft an Stelle einer echten europäischen Regierung in der EZB (bar jeder demokratischen Legitimation) politische Entscheidungen jenseits einer Korrekturmöglichkeit durch die Wählerschaft. Dass man von der griechischen Regierung die europäischen Werte einfordert (es geht ja um Geld), während Viktor Orbán diese Werte unter mildem Tadel verhöhnen darf (es geht nur um die Demokratie), gibt zu denken.

Wo sind die europäischen Werte, wenn in Griechenland 50 Prozent Jugendarbeitslosigkeit herrscht (eine verlorene Generation wie auch in Spanien), die Suizidrate um 35 Prozent gestiegen ist, eine Million Griechen auf Anordnung der Troika nicht mehr krankenversichert ist, Kinder in den Schulen hungrig umfallen? Sind das jene europäischen Werte, die wir verteidigen?

Rudolf Taschner wirft in der „Presse“ den griechischen Wählern vor, ihnen fehle der „nötige Sachverstand“, sie hätten „zugunsten irrationaler Hoffnungen ihre Verantwortung über Bord“ geworfen? Wenn Kinder von Herrn Taschner unter Hunger litten, und er den Arzt nicht zahlen könnte, wie „rational“ würde dann seine Wahlentscheidung ausfallen?

Abstrakte Prinzipienreiterei

Oder anders herum: Wie irrational und verantwortungslos muss man sein, um eine Politik nicht abzuwählen, die Millionen Menschen um ihr Leben betrügt? Denn die Medizin schlägt nicht an, die religiösen Mantren zeigen ihre verheerende Wirkung, evidenzbasiert!

Der Schuldenschnitt ist unmöglich, tönen fast alle Politiker trotz ihres Wissens um seine Unabwendbarkeit. Griechenland müsste Jahrzehnte lang Wachstumsraten von zehn Prozent haben, um die Steuerbasis für die Rückzahlung bestehender Kredite zu schaffen.

Selbst schuld, die haben sich in die Euro-Zone geschwindelt. Ja, stimmt, aber das wussten alle. Man wollte Griechenland drin haben. Und dieses lieferte entsprechende Zahlen – so wie Italien, Spanien etc. Man wusste: Wirtschaftliche Ungleichgewichte können nur noch über Arbeitslosigkeit statt Abwertung erfolgen. Man hat sich nie überlegt, wie man mit diesem Problem umgehen soll. Stattdessen abstrakte Prinzipienreiterei jenseits der Menschen.

Man soll die Tsipras-Regierung nicht zur Retterin Europas stilisieren. Aber die von ihr gestellten Fragen bieten die Chance auf neue Antworten. Etwa, wie man Sparpolitik und nötige Reformen so gestaltet, dass den Menschen ihre Würde bleibt.

EU-Wirtschaftsextremismus

Ohne grundlegend neue Denkansätze werden Parteien, die bloß immer höhere Dosen falscher Medizin verabreichen, von den Wählern davongejagt werden. Nicht alle Alternativen zu Sozialdemokratie und Konservativen sind erfreulich. Herr Juncker sollte schon mal üben, wie man eine Politik ändert, die abgewählt wurde. Der praktizierte (wenngleich selektive) Wirtschaftsextremismus der EU öffnet die Tore für andere extremistische Ideen. Syriza war nur die milde Anfangsdosis (und so linksradikal, wie die SPÖ der 1970er-Jahre).

Pfeifen wir auf das Purgatorium mit den berühmten Worten von Keynes: „In the long run we are all dead. Economists set themselves too easy, to useless a task if in tempestuous seasons they can only tell us that when the storm is long past the ocean is flat again.“ (Tract on Monetary Reform, 1923)

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.02.2015)

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