Putins Erfolgsrezept: Lügen und Verwirrung stiften

Ohnmächtig schaut die internationale Gemeinschaft zu, wie hinterhältig Putins Russland seinen Krieg gegen die Ukraine führt.

Vor einem Jahr begann die Annexion der Krim durch Russland. Die Journalisten der Moskauer oppositionellen „Neuen Zeitung“ haben die damaligen Vorgänge im Detail rekonstruiert und anhand von Dokumenten und Bildmaterial nachgewiesen, dass die Annexion lange vorher vorbereitet worden ist und daher gewiss keine spontane Reaktion auf den Sieg der Protestbewegung auf dem Kiewer Maidan (Unabhängigkeitsplatz) war.

Der Überfall auf die Ukraine begann mit einer Lüge: In der Nacht auf den 27. Februar besetzten russische Soldaten ohne Erkennungszeichen Gebäude der Regierung und des Parlaments der ukrainischen Halbinsel. Der „Neuen Zeitung“ zufolge spielten „eigens auf die Krim gebrachte Zivilpersonen (aus Russland) die Rolle der Zivilbevölkerung (der Krim), die unsere Armee bei der Besetzung strategischer Objekte entschieden unterstützten“. Dieses Spektakel stellte sich bald als Auftakt zum Krieg in der Ostukraine heraus.

Lüge und Provokation sind die „Wahrzeichen“ auch der dortigen Vorgänge, die mittlerweile zu einem schwerwiegenden internationalen Problem ausgewachsen sind. Dabei ist die Ohnmacht der internationalen Gemeinschaft angesichts der zahllosen offensichtlichen Lügen mehr als nur bemerkenswert.

„Pistole? Welche Pistole?“

Stellen Sie sich Ihre Verwirrung angesichts der folgenden Situation vor: Ein Mann zielt mit einer Pistole auf Sie. Während Sie sich noch panisch fragen, ob er abdrücken wird, sagt er: „Pistole? Welche Pistole denn? Ich habe doch gar keine Waffe!“ Was tun angesichts eines Angreifers, der bestreitet, bewaffnet zu sein und Sie zu bedrohen? Ihn irgendwie vom Gegenteil zu überzeugen versuchen?

Diese Situation entbehrt nicht einer gewissen Absurdität. Aber genau so gestaltet sich der Dialog mit der russischen Führung: „Truppen? Welche Truppen? Wir mischen uns in der Ostukraine doch nicht ein!“ Ungeachtet aller eindeutigen Beweise wie russische Kriegsgefangene, Interviews mit Söldnern, erbeutetes Kriegsgerät, Augenzeugen, Luftaufnahmen usw. spricht man in Russland stattdessen hartnäckig von „einfachen verzweifelten Bürgern“, die gegen die ukrainische Armee kämpfen.

Diese „Verzweifelten“ sind allerdings viel besser organisiert und ausgebildet als die ukrainische Armee. Sie verfügen über modernste Waffen und gehen damit auch gekonnt um. Doch auch viele europäische und nordamerikanische Politiker sprechen nachsichtig, um Moskau ja nicht zu verärgern, von „(prorussischem) Separatismus“ in der Ukraine – wenn sie, wie nicht wenige Exponenten insbesondere der Ränder des politischen Spektrums, der russischen Lesart des Konflikts nicht überhaupt zustimmen. Ein Aggressor aber, der bestreitet, bewaffnet zu sein, während er auf jemanden zielt, ist entweder nicht zurechnungsfähig oder er will mehr als „nur“ schießen: Er will verwirren und erniedrigen. Sein Opfer soll nicht verstehen, was vorgeht. Es gibt ja „keine Pistole“, wozu also die Aufregung!

Das funktioniert auch auf weltpolitischer Ebene: Zahlreiche Beobachter, die in ihrer Kindheit das Märchen vom nackten König nicht gelesen haben dürften, flüstern einander ratlos zu: „Vielleicht gibt es ja wirklich keine Pistole, was meinen Sie?“ Das spielt Wladimir Putin direkt in die Hände.

Eine solche Situation ist freilich nur dann möglich, wenn es dem Bedrohten wichtig ist, mit dem Angreifer immerhin insofern eine „gemeinsame Beurteilung“ der Situation herzustellen, als dieser eben bewaffnet ist. Würde der Bedrohte aber entscheiden, dass er einer solchen „Gemeinsamkeit“ nicht bedarf, um sofort aktive Gegenmaßnahmen zu ergreifen, würde Putins Strategie versagen. Genau dazu ist man jedoch im Westen – derzeit jedenfalls – nicht bereit.

„Hybride Kriegsführung“

Im Februar 2014 wurden auf dem Maidan über 100 Menschen – mehrheitlich oppositionelle Demonstranten – getötet. Viele kamen durch die Kugeln unbekannter Scharfschützen um. Bisher konnte man keine Systematik in deren Vorgehen erkennen; die Opfer waren zu verschieden und, so schien es, ganz zufällig ausgewählt.

Das Ziel der Scharfschützen war offenkundig, Verwirrung zu stiften. Die Menschen auf dem Maidan sollten angesichts des unsichtbar über sie kommenden Todes vor Angst gelähmt werden. Die Rechnung ging aber nicht auf, da die Demonstranten den Platz auch angesichts dieser grausamen Herausforderung verteidigten – und schließlich siegten.

Den unbekannten Scharfschützen in Kiew folgte die Annexion der Krim durch „unbekannte“ Soldaten. Es folgten Anschläge, Demonstrationen und Besetzungen von Amtsgebäuden in der Ostukraine, was schließlich in einen Krieg mündete. Experten sprechen von „hybrider Kriegführung“. Zu seinen wichtigen Bestandteilen gehören die Informationspolitik und die damit angestrebte Deutungshoheit über den Konflikt, und hier feiert die russische Seite große Erfolge.

Wie damals, in der Stalin-Zeit

Etymologisch betrachtet bezeichnete Hybris ursprünglich eine extreme Form des Hochmuts, die bis zur Realitätsleugnung reicht. Diese Hybris ist somit eine besonders niederträchtige Form des Umgangs mit einem Gegner. „Pistole? Welche Pistole?“ – fragt der Angreifer und drückt ab.

Kenner der Geschichte Russlands im 20. Jahrhundert sehen sich an die Blütezeit des sowjetischen Staatsterrors, an die zahllosen durch Prügel und Folter erzwungenen Geständnisse von „Volksfeinden“ und „antisowjetischen Elementen“ erinnert, die sehr oft nicht nur nichts mit der Realität zu tun hatten, sondern ihr überhaupt Hohn sprachen.

Man denkt auch daran, wie von den (von der Hinrichtung der Inhaftieren nicht informierten) Angehörigen noch monate- oder jahrelang Pakete mit warmer Kleidung oder Lebensmitteln angenommen wurden, nicht ohne ihnen Quittungen darüber auszuhändigen!

Wozu das alles? Welchen Sinn hatte diese bürokratisch organisierte, gigantische Lüge? Die Willkür der Gewalt kannte keine Grenzen. Es schien sich um Terror um seiner selbst willen, ohne erkennbaren Sinn, zu handeln. Oder sollte die totale Verwirrung in der Orgie der Gewalt unter Stalin die Menschen zusätzlich quälen?

Die Zäsur von 2014

Die Methode der totalen Verwirrung durch Lüge und Provokation hat den Zusammenbruch der Sowjetunion überlebt. Die stalinistischen Verbrechen wurden nie richtig aufgearbeitet, wie auch die Wirkung von diesem Erbe in der politischen Kultur der Sowjetunion und des postsowjetischen Russlands nie eingehend analysiert und von den europäischen Politikern auch nie ernst genommen wurde.

2014 wird wohl einmal als wichtige Zäsur gelten: Erneut feiert staatliche Gewalt, die auf Verwirrung und Realitätsleugnung setzt, Siege. Jetzt ist die Lernfähigkeit einer auf Rationalität und Fakten setzenden europäischen Politik so stark wie selten zuvor gefordert. Die westeuropäischen Politiker könnten auch von dem Mut und der Solidarität der Menschen auf dem Maidan viel lernen.

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.02.2015)

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