Pseudowissenschaft statt Spitzenforschung

Die Universität könnte eine großartige Institution sein. Innere und äußere Kräfte ruinieren sie allerdings immer mehr.

Eine Universität ist eine Ausbildungsinstitution. Punktum!“, schrieb Rudolf Taschner in der „Presse“ (12.März) und verwies auf den Ausbildungsauftrag, den die 1365 (beziehungsweise 1384) gegründete Universität Wien vom Papst und Landesfürsten für Theologen, Juristen und Mediziner erhalten hatte. Herr Taschner hat die Fakten auf seiner Seite.

Aber die Universitäten im Römisch-Deutschen Reich, Prag, Wien, Heidelberg et cetera, waren Spätlinge in Europa und hatten mit der intellektuellen Aufbruchstimmung der Anfänge um 1200 in West- und Südeuropa, da die Rezeption der antiken Philosophie das Denken revolutionierte, recht wenig zu tun. Die großen Umwälzungen hatten sich zuerst in den Fächern ereignet, die an der Universität dann in der sogenannten Artistenfakultät gelehrt wurden; erst davon ausgehend und darauf aufbauend in den höheren, der theologischen, juristischen und medizinischen Fakultät. Jene Artistenfakultät war jedoch im Jahr 1365, woran Wien sich 2015 jubilierend erinnert, schon längst zu einer Art von höherem Gymnasium abgesunken.

Humboldt, der Retter

Die in der Neuzeit daraus entstandene Philosophische Fakultät wäre auf demselben Niveau verblieben, wäre ihr nicht um 1800 der Retter in Gestalt Wilhelm von Humboldts erschienen, den Wissenschaftspolitiker heutzutage noch in Festreden zu rühmen pflegen, um gleichzeitig in der Praxis seine Reformen endgültig rückgängig zu machen.

Um 1800 war durch sie die Philosophische Fakultät endlich zu einer höheren aufgestiegen (in Österreich freilich erst mit reichlicher Verspätung). Immanuel Kants Schrift über den Streit der Fakultäten 1798 hätte man ohne Weiteres sogar ihren Vorrang vor denjenigen Fakultäten, welche die preußischen Staatsdiener für Seelsorge, Rechtspflege und Gesundheit ausbildeten, entnehmen können. Doch Kant ist in unserer Gegenwart auch nur noch dem Namen nach eine Autorität. Und so verliert denn immer mehr an Bedeutung und Gewicht, was die Wissenschaften der vergangenen beiden Jahrhunderte als ihre wichtigsten Aufgaben erkannt haben: die Erklärung der Gesetze der Natur, also dessen, „was die Welt im Innersten zusammenhält“, sowie das Verstehen der Gesetze des Denkens, der historischen Vorgänge, der geistigen Produkte der Menschheit.

Dieser Verlust zählt doppelt, da inzwischen die Wissenschaft die autoritäre Stellung so ziemlich erobert hat, die früher Theologie und Kirche innehatten. Auch Leute, die ihr ganz fernstehen, glauben ihren Vertretern wie früher dem Pfarrer. Davon zehren ungerechterweise auch und gerade die neuen Wissenschaften, die weit nach Humboldt auf den Plan getreten sind: die Gesellschafts- und Wirtschaftswissenschaften, also überwiegend angewandte Wissenschaften, die sich allesamt ihres tatsächlichen oder angeblichen praktischen Nutzens wegen eines hohen gesellschaftlichen Ansehens erfreuen, aber auf keineswegs allenthalben gesicherten theoretischen Grundlagen ruhen.

Erklären, aber nicht beweisen

Seit ihren Anfängen ist die Frage nie restlos geklärt worden, ob sie soziale und ökonomische Zustände und Vorgänge bloß zu verstehen haben oder diese auch erklären können. Die verstehenden Geisteswissenschaften können ja – abgesehen von Logik und Mathematik, so weit sie denn dazugehören – immer nur Erkenntnisse von einer mehr oder minder hohen Plausibilität erreichen, nichts jedoch beweisen, wie die Naturwissenschaften.

Wenn die Gesellschafts- und Wirtschaftswissenschaften statistische und experimentelle Verfahren der Naturwissenschaften nachahmen, so haben sie es trotzdem nie mit Naturgesetzen, die in aller Regel überall und jederzeit gelten, zu tun, können also gerade das Geschäft, das die Gesellschaft von ihnen am dringendsten verlangt, nämlich das Geschäft der Voraussage für die Zukunft, niemals in wissenschaftlich exakter Weise erfüllen. Hier erreichen sie nicht einmal die hohe Plausibilität der seriösen Geisteswissenschaften, wie ein Blick auf die Konjunkturprognosen oder die Erfolge beziehungsweise Misserfolge bestimmter Bildungsreformen sofort zeigen kann.

Ideologie statt Wahrheitssuche

Es ersetzt vielmehr nur zu oft reine Ideologie die objektive Wahrheitssuche, die seinerzeit in den Anfängen der Sozialwissenschaften Alfred Weber so vehement eingefordert hatte. Den Kampf zweier ökonomischer Schulen kann man jetzt in der Griechenland-Krise bestens beobachten, wobei sich bemerkenswerterweise der linkssozialistische griechische Finanzminister besonders akademisch gebärdet. Aber auch bei der Entscheidung, ob geistige Fähigkeiten von allen Menschen im Bildungsvorgang in gleicher In- und Extensität erworben werden können, prallen Ideologien ungebremst aufeinander, wobei sich hier allerdings besonders viele Leute außerhalb der Universitäten als Experten in die Debatte einmischen, die sich aber selbst meist wissenschaftlicher Methoden bedienen – was schwerlich für deren Subtilität und Solidität sprechen dürfte.

Angewandte Wissenschaft ist selbstverständlich unverzichtbar, um unser aller Lebensbedingungen durch Technik, Verkehr, Architektur, Medizin et cetera zu verbessern. Sie war und ist aber von der Grundlagenforschung abhängig, die, für sich genommen, nur von dem Streben nach Erkenntnis, nie von deren möglichem praktischem Nutzen geleitet wird bzw. geleitet werden darf.

Begabung, Fleiß, Begeisterung

In der Humboldt'schen Universität sollten die Lehrenden forschen und auf der Grundlage ihrer Forschung lehren, die Studierenden lernen und im fortgeschrittenen Studium forschend lernen und lernend forschen. Dazu gehörten Begabung, Fleiß und eine Begeisterung, die auf vieles andere zu verzichten bereit war. Soziale Sicherheit oder geregelte Arbeitszeiten erwartete niemand. Auf unsere Zeit kann man das natürlich nicht einfach übertragen. Aber die Reduktion der modernen Massenuniversität auf eine Ausbildungsinstitution erinnert doch verdammt an die Universität vor Humboldt, wo die Forschung weithin zur Nebensache verkommen war.

Natürlich braucht die Gesellschaft viele Leute, die im tertiären Bereich ausgebildet werden. Ob es so viele sein müssen, wie von Politikern behauptet, wird freilich immer öfter infrage gestellt, seitdem es an Fachkräften mit guter Ausbildung im sekundären Bereich zu mangeln begonnen hat. Vor allem würde für eine von der Forschung getrennte Ausbildung in vielen Fällen durchaus auch eine Fachhochschule genügen.

Da in Österreich aber offenbar der Mensch erst beim Universitätsabsolventen beginnt, hat man umgekehrt künstlerische Fachhochschulen, welche hoch achtbare Fertigkeiten vermitteln, aber niemand zum Forscher ausbilden, grundlos zu Universitäten ernannt. Etikettenschwindel, Pseudowissenschaft, Ausdünnung der Spitzenforschung zugunsten der forschungsfernen Ausbildung möglichst vieler Studierender drohen so die großartige Idee der Universität zu zerstören.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

DER AUTOR

Fritz Peter Knapp(geboren 1944 in Wien) war ab 1976 Professor für Ältere deutsche Sprache und Literatur an den Universitäten Wien, Passau, Kiel und zuletzt, bis zur Emeritierung 2009, Ordinarius in Heidelberg. Er ist Mitglied der Heidelberger und Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Er lebt im Ruhestand wieder in Wien. [ Privat ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.03.2015)

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