Rechnitz: Ermordet, verscharrt - vergessen?

70 Jahre nach der Ermordung von 170 jüdisch-ungarischen Zwangsarbeitern gibt es noch keine Spur von ihren Gräbern.

Heute, auf den Tag genau vor 70 Jahren, wurden im burgenländischen Rechnitz innerhalb weniger Stunden etwas mehr als 170 ungarisch-jüdische Zwangsarbeiter ermordet, verscharrt und vergessen. Ein Massenmord und eines der schlimmsten Verbrechen, das in den letzten Tagen des Zweiten Weltkrieges auf österreichischem Boden begangen wurde. Vergessen?

Den Prozessakten zufolge wurde am 24.März1945, unter dem Druck der unaufhaltsam nahenden Roten Armee, die Errichtung des Südostwalls aufgegeben. In Folge dessen wurden 600jüdische Zwangsarbeiter vom Lager Köszeg (Ungarn) mit der Eisenbahn nach Burg (Burgenland) transportiert.

Von dort sollten sie den Todesmarsch in die Konzentrationslager Auschwitz und Mauthausen antreten. Am Bahnhof Burg mussten die Schergen der Sturmabteilung allerdings erkennen, dass unter der zu verlegenden Personengruppe ein hoher Anteil krank und marschunfähig war. Um den Marsch nicht zu gefährden, wurden die Schwachen und Kranken aussortiert und am frühen Abend mit der Bahn nach Rechnitz verlegt.

Unauffindbare Massengräber

Dort begann gerade im Schloss Batthyány ein Gefolgschaftsfest, an dem unter anderem das Gestapo-Mitglied Franz Podezin, Funktionäre der Kreisleitung und die verantwortlichen Bauleiter des Südostwalls teilnahmen. Gastgeber waren Graf und Gräfin Batthyány, Schwager und Schwester von Hans Heinrich Thyssen-Bornemisza, und deren Gutsverwalter.

Die Zeit war knapp. Am Bahnhof von Rechnitz lagerten die etwas mehr als 170 deportierten, völlig erschöpften jüdischen Zwangsarbeiter. Unter Beteiligung von Mitgliedern der Waffen-SS wurde kurzerhand aus der Feiergesellschaft ein zwölfköpfiges Exekutionskomitee rekrutiert. Kaum Mitternacht, waren in der Nähe des sogenannten Kreuzstadels bereits Massengräber ausgehoben.

In den ersten Stunden des 25.März 1945 liquidierte die Gruppe sämtliche Juden durch Schüsse in den Kopf oder das Genick, einige wurden erschlagen. Die bis auf die Unterwäsche entkleideten Leichen wurden verscharrt. Wenig später öffnete die Rote Armee eines der Grablöcher, analysierte die Todesursachen und schüttete es wieder zu. Die den österreichischen Gerichtsakten später beigefügte Lageskizze ging verloren.

Trotz eines bereits im Oktober 1945 eingeleiteten Justizverfahrens wurden die Täter nie zur Verantwortung gezogen. Auch nach 70Jahren sind die Gräber unauffindbar. Wie kann das sein? Das Massaker von Rechnitz ist unumstritten eines der schlimmsten Kriegsverbrechen, das in den letzten Kriegstagen auf österreichischem Boden verübt wurde.

Obwohl es heute technisch und finanziell ein Leichtes zu sein scheint, 30.000Quadratkilometer Meeresboden nach einem abgestürzten Flugzeug mit 239 Passagieren abzusuchen, stellt das Auffinden der jüdischen Opfer von Rechnitz ein offensichtlich unlösbares Problem dar. Daran konnte auch der 1992 ins Leben gerufene Verein Re.f.u.g.i.u.s. noch nichts ändern. Seine Mitglieder bemühen sich zwar redlich, an die nicht aufgearbeiteten Gräueltaten der Nazi-Herrschaft beim Südostwallbau zu erinnern. Auch gedenkt der Verein jährlich des Massakers in Rechnitz. Die erfolgreiche Suche nach den Gräbern blieb aber bisher aus.

Ähnlich wenig erreichte die österreichische Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek mit ihrem Stück „Rechnitz (Der Würgeengel)“. Das 2008 geschriebene Drama ruft das Massaker in Erinnerung. Doch bleibt es als Kunstwerk seltsam abstrakt und spricht nur einen sehr kleinen Kreis an. Ein engagiertes Verhalten im realen Fall Rechnitz konnte das Stück nicht auslösen.

Suche am falschen Ort

Schließlich waren auch eine ausgesetzte Belohnung der Nichte Margareta Gräfin Batthyánys, Francesca Habsburg-Lothringen, sowie ein neuerliches Studium der Gerichtsakten und wissenschaftliche Versuche der Uni Wien nicht von Erfolg gekrönt. Auch wenn man zunächst meinte, die infrage kommende Fläche auf die Größe von „15 Fußballfeldern“ einengen zu können, und obwohl man – von einer alle vorhandenen Erkenntnisse zusammenfassenden „Web-Applikation“ – die Gräber noch präziser zu verorten hoffte, hatte man wieder am falschen Ort gesucht.

Es steht außer Frage, dass eine würdige Aufarbeitung der Gräueltat nur durch Auffindung des Tatorts zu erhoffen ist. Doch irgendwie scheint man Gras über die Gräber wachsen lassen zu wollen – und zwar so lange, bis niemand mehr danach fragt. Dabei sind die in Rechnitz ermordeten Juden eine Realität. Schlomo Hofmeister, Gemeinderabbiner von Wien, befürchtet zu Recht, dass das Wissen um den genauen Ort von den letzten Mitwissern nun bald ins eigene Grab mitgenommen werden wird.

Verwehrte Anerkennung

Eduard Erne und Margareta Heinrich thematisierten dieses Verhalten 1994 in ihrem Film „Totschweigen“. Nur leider brachten auch sie bei ihren Recherchen keine neuen Erkenntnisse ans Tageslicht. Den Opfern dieses brutalen Massakers wird damit die Anerkennung, Achtung und Ehre einer letzten Ruhestätte verwehrt. „Eine Schande“, meint Rabbiner Hofmeister.

Ein Gedenkstein an einem beliebigen Ort, um an dieses grauenhafte Verbrechen zu erinnern, wäre eine gute und wichtige Sache– kann aber keinesfalls ein würdiger Ersatz sein. Das Anrecht der Opfer auf die Lokalisierung und Bekanntmachung ihrer letzten Ruhestätte sowie die Anerkennung ihrer Gräber sind keine Fragen der Verhältnismäßigkeit, sondern ein Muss.

Irgendwo in der Nähe des Kreuzstadels bei Rechnitz liegen seit 70 Jahren die sterblichen Überreste von nahezu 200 ungarischen Juden, und mit ihnen ihr Rûar, der emotionale, immer am Körper des Verstorbenen verbleibende Aspekt der Seele. Unbekannt verscharrt, dem Vergessen anheim gegeben. Der jüdische Glaube schreibt vor, dass jüdische Gräber niemals aufgelöst werden und niemals ihre Bedeutung als Ruhestätte des Verstorbenen, oder genauer gesagt seiner sterblichen Überreste und eines ewig kognitiven Bestandteils seiner Seele, verlieren.

Es fehlen die Aktionisten

Was das für die namenlosen Toten in den Gräbern bei Rechnitz bedeutet, ist offensichtlich. Doch was sagt es über uns aus? Nach 70 Jahren ist es augenscheinlich gleichgültig geworden, wo sich die sterblichen Überreste der ermordeten Zwangsarbeiter befinden. Es fehlt schlicht an Aktionisten, die sich der Sache annehmen, und zwar so lange, bis wir ein diesbezügliches Bewusstsein entwickelt haben und Verantwortung übernehmen.

So gesehen kann man nach 70Jahren wohl nur dann der österreichischen Bundesregierung einen Vorwurf machen, nichts zu unternehmen, wenn man nicht selbst untätig ist. Es bleibt zu hoffen, dass sich, unter einem aus dem Burgenland stammenden Kultusminister, in der Sache etwas bewegt und wir uns anschließen. Hilfreich freilich wäre aber gewesen, wenn der ORF sich innerhalb seiner zahlreichen zeitgeschichtlichen Akzente in diesem Frühjahr auch des Themas Rechnitz angenommen hätte.

DER AUTOR

E-Mails an:debatte@diepresse.com

Dr. Alfred Weidinger
(*1961 in Schwanenstadt) ist Vizedirektor des Belvedere. Seine Forschungsschwerpunkte sind bildende und angewandte Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts. Als Dokumentarfotograf bereist er seit 1980 Afrika. Aus Anlass des 70. Jahrestags des Massakers von Rechnitz schrieb er das Drehbuch für den Film „Árpád und Géza“. [ Peter M. Kubelka ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.03.2015)

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