Londons verletztes Großmachtstreben

Die Ausführungen des britischen OSZE-Botschafters zur Krim erinnern an die Faktenverzerrung während des Kalten Kriegs.

Der Kommentar des britischen OSZE-Botschafters, Domenic Schroeder, zum Jahrestag der Wiedervereinigung der Krim mit Russland („Presse“ vom 19. 3.) erinnert an Faktenverzerrung während des Kalten Kriegs und die alten Traditionen einer ehemaligen Kolonialmacht. Es ist skandalös, dass irgendwo ein Volk über sein Schicksal entscheidet, ohne London zu fragen!

Aber es war eben die Krim, für die gerade die Briten von 1853 bis 1856 einen Krieg gegen Russland führten. Die Geschichte erinnert sich an die Belagerung Sewastopols und die heldenhaften Verteidiger der Stadt, die dieses Stück russischen Bodens im wahrsten Sinn des Wortes mit ihrem Blut durchtränkt haben.

Vielleicht möchte der Herr Botschafter aber seine britischen Kollegen sowie US- und EU-Politiker fragen, was sie auf dem Maidan im Vorfeld der tragischen Ereignisse des Februars 2014 gemacht haben. Wer hat den aggressiven Teil der Demonstranten, die Verwaltungsgebäude stürmten und Andersdenkende wild jagten, aufgehetzt und finanziert? Es ist kein Geheimnis, dass der verfassungswidrige Staatsstreich, der am 22. Februar in Kiew von radikalen Nationalisten vollzogen wurde, entgegen jeglicher Moral und Rechtslogik vom Westen aktiv unterstützt wurde.

Zweierlei Maß

Die historisch überwiegend russischstämmige Krim hat den Umsturz nicht anerkannt. Beim Referendum am 16. März 2014 sprachen sich mehr als 90 Prozent der Bewohner der Halbinsel für eine Wiedervereinigung mit Russland aus. Unabhängige internationale Beobachter haben den Abstimmungsverlauf kontrolliert und die Ergebnisse als legitim anerkannt.

Es ist unverständlich, warum die Referenden in Schottland oder über den Status der Falklandinseln völkerrechtskonform sind, die Selbstbestimmung der Krim-Bevölkerung, die sich auf einen Beschluss eines legitim gewählten Parlaments stützt und der Bedrohungen für das Leben der Menschen auf der Krim durch Extremisten zugrunde liegen, vom Herrn Botschafter aber abgelehnt wird.

Radikaler Nationalismus

Ein Zitat aus dem britischen Memorandum im Rahmen der Vorbereitung des Gutachtens des Internationalen Gerichtshofes (22. Juli 2010) über die Kosovo-Unabhängigkeit als Illustration der doppelten Standards des britischen Kollegen: „Insgesamt verbietet das Völkerrecht eine Sezession und Abtrennung nicht und garantiert nicht die Einheit der Vorgängerstaaten bei inneren Bewegungen, die zu einer Abtrennung oder zur Unabhängigkeit bei Unterstützung der davon betroffenen Völker führen“ (S. 93). Im Kosovo gab es kein Referendum und die Sezession erfolgte durch Bomberangriffe unter Beteiligung der britischen Armee.

Genauso wie in Syrien hat London in der Ukraine die Risken eines radikalen Nationalismus übersehen. 2013 hat Großbritannien trotz Warnung anderer Staaten gefordert, syrische Rebellen mit Waffen zu unterstützen. 20 britische Saxon-Radpanzer wurden bereits an Kiew geliefert. Es wäre auch angebracht zu fragen, ob London schon Militärausbildner entsandt hat, worüber berichtet wird.

Wir schließen nicht aus, dass die Abwesenheit britischer Vertreter bei der Ausarbeitung der Minsk-2-Vereinbarungen unbefriedigte Großmachtambitionen verletzt hat. Es stellt sich die Frage, wer von einem erneuten Scheitern des Waffenstillstands in der Ostukraine, der trotz Verletzungen durch Kiew im Großen und Ganzen funktioniert, profitieren wird. Der Logik nach würde es Kontinentaleuropa kaum nützen. Aber ob Botschafter Schroeder die Interessen Europas vertritt, bleibt wohl sein kleines Geheimnis.

Sergej Netschajew (*1953 in Moskau),
seit 1977 Diplomat, ist seit April 2010
Botschafter der Russischen Föderation
in Österreich.

E-Mails an:debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.03.2015)

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