Der Geisterfahrer Tsipras macht Station in Moskau

Russlands Präsident Putin betreibt den Zerfall der Eurozone und der EU. Zündet er mit seinem Gast aus Athen die Lunte?

Das Schuldenkarussell macht aus Griechenlands linkem Hoffnungsträger, Alexis Tsipras, einen erratischen Vielreiser. Skeptiker sehen in ihm gar einen Geisterfahrer wider das Vereinte Europa. Aber Reisen soll ja den Geist veredeln – ob es auch Milliardenlasten tilgen kann, ist eine andere Geschichte.

Heute also – nach Tsipras ergebnislosen Trips zu den lässig hingehaltenen Troikanern in Berlin, Brüssel und Paris – auf nach Moskau. Auf in die von EU-Sanktionen verhangene Metropole der berüchtigten Masterpläne. Wladimir Putin, der strategische Gönner, lässt den von Zahlungsfristen und Staatsbankrott getriebenen Alexis Tsipras früher als geplant vortreten. Ein provokantes Kalkül in explosiven Zeiten.

Aber das ungleiche Duo verbindet in der national stilisierten Leidens- und Retterrolle doch sehr vieles: Beide verabscheuen das West-Diktat, beide fühlen sich gedemütigt und hintergangen, beide jonglieren mit Schuld und Schulden, beide schmieden linksextreme-ultrareaktionäre Allianzen und beschwören den Opfermythos.

Genervte Euro-Schatzmeister

Der Zeitpunkt ist gut gewählt, die vollmundig ausgerufene russisch-griechisch Brüderlichkeit auch. Morgen, am 9. April 2015, ist eine weitere 450 Millionen-Euro-Rate Griechenlands fällig, deren Zahlung die Syriza-Regierung in Schwebe hält. Stattdessen fordert sie von der EZB, griechische Staatsanleihen zu akzeptieren, um so an die nächste Milliardentrance zu kommen.

Tsipras und Co. wissen aber: Das ist ein absolutes no go für die genervten Euro-Schatzmeister. Ein Vabanque des EU- und Nato-Mitgliedes mit dem Staatsbankrott. Oder versucht Tsipras nur noch, Letztmögliches aus den Westtöpfen herauszupressen, weil er für sein geopolitisch gewichtiges Land mit dem Osten längst den Grexit beschlossen hat?

Wurde der Besuch auch vorverlegt, weil das Datum historisch brisant ist? Am 6. April 1941 griff die deutsche Wehrmacht griechische Widerstandstruppen an und besetzte Griechenland. Dort leisteten bald nur noch kommunistische Untergrundkader Gegenwehr. Massaker, Schikanen, Hunger kosteten tausenden Zivilisten während der Naziherrschaft das Leben.

Der ehemalige Wiener Bürgermeister, der NSDAP-Verwaltungsprofi Hermann Neubacher, wurde von Berlin auserkoren, „die Daumenschrauben bei den verlotterten Staatsfinanzen anzusetzen“. So zwang die NS-Administration der griechischen Nationalbank auch eine millionenschwere Zwangsanleihe auf.

Jetzt, im griechischen Schulden- wie im russischen Einflusssphären-Kampf, wird Putin mit Tsipras im Schlepptau zum Rächer der Vergangenheit. Das Duo prangert NS-Schuld, Tilgungslücken und Teilungsverluste von einst an. Aktuell wollen die Griechen 278,7 Milliarden Euro an Reparationen von Berlin. Athen argumentiert, Griechenland sei bei den 2+4-Verträgen der deutschen Einheit, die auch die Reparationsfrage inkludierten, kein Signatar gewesen. Dass Russland sehr wohl einer war, spielt in Zeiten der immanenten Widersprüche offenbar keine Rolle. Ergo: Berlin stehe in Athens Schuld.

Minister aus der Syriza-Regierung vergleichen den geforderten Schuldenschnitt bei der Troika 2015 gar mit der Annullierung aller Schulden im revolutionären Russland von 1918. Das gefällt dem geschichtspassionierten Putin. Ihm ist der Wortbruch der USA in Sachen deutscher Reparationen präsenter denn je. Hatte doch Roosevelt in Jalta zugestimmt, Deutschland müsse 20 Milliarden US-Dollar zahlen und die Hälfte davon solle an Stalins Sowjetunion gehen.

Abermillionen versickerten

Im Juni 1945 war in Potsdam alles anders. Die USA und ihre westlichen Verbündeten begnügten sich mit viel weniger. Moskau fühlte sich betrogen, und es sah in dem US-finanzierten Marshallplan, der ein wiedererstarktes Deutschland forcierte, ein „bedrohliches Instrumentarium der kapitalistischen Weltherrschaft“.

Die Sowjets konterten mit dem Kominform (Kommunistisches Informationsbüro), der Kalte Krieg war entbrannt. Und Griechenland stand neben dem geteilten Berlin im Brennpunkt: Bürgerkrieg im Trümmerstaat. Die von Moskau gepushte EAM-Partei kämpfte gegen eine westlich gestützte Achse um die Macht.

Als Tito 1948 jedoch mit Stalin brach und gleichzeitig massive Hilfsmittel aus dem Marshall-Fund nach Athen gelangten, war der weltrevolutionäre Hellas-Traum vorbei. Und für Moskau blieb eine historische Rechnung offen – da konnte die Genugtuung über das jahrzehntelange Versickern der Abermillionen Dollars und Euros im griechischen Oligarchen-, Vettern-, Parteien- und Rüstungssumpf noch so groß sein. Jetzt, in Zeiten prekärer Asymmetrien, sieht Putin in der Krisendynamik seine Chance gekommen.

Sanktionsfront bröckelt

Auch wenn sich Russlands Lage verschärft, die Sanktionen wehtun, der Rubel verfällt, Infrastrukturen kollabieren, wirken bewährte Kräfte: Das russische Volk ist wieder auf den Feind von außen, auf das kollektive Leid und auf den Erlösermythos eingeschworen. Obendrein polarisieren der Ukrainekonflikt und die Finanzplünderung zusehends Europas Bevölkerung.

Innerhalb der Union bröckelt die Sanktionsfront, zeigen neben Griechenland Mitglieder wie Ungarn, Tschechien, Slowakei antiwestliche Reflexe. Linke wie rechte Massenbewegungen, ob Syriza und Podemos, ob Front National und Pegida, sympathisieren mit dem autokratisch nationalistischen Russland, das sie massiv sponsert.

Putins Nervenkrieg zielt auf eine auferstandene Eurasische Union und auf eine zerfallene Eurozone. Ob er mit Tsipras die Lunte zündet? Im Vorfeld des heutigen Besuchs tummelten sich vom eurasischen Imperium schwärmende Minister aus Athen in Moskau, verhandelten mit Gazprom um Gas und Pipelines. Ein Kreml-Organ titelte: „Amerika betrügt Griechenland, Deutschland raubt es aus. Retten kann es nur Russland.“

Privilegierte Staatskirche

Der religiös mitschwingende Unterton im „Opfer-Pathos“ ist kein Zufall. Die ultranationalistische Orthodoxie in Moskau wie in Athen bekennt sich zum eurasischen Osten. Figuren wie der orthodoxe Milliardär Konstantin Malofejew, der Finanzier prorussischer Kräfte auf der Krim und im Donbass, stärkt nachhaltig die orthodoxe Achse.

Ob diese Art von Glaubensbrüdern mitverantworten, dass weder Russland noch Griechenland auf ein Steuerabkommen mit der Schweiz drängen? Dort liegen zig Milliarden hinterzogener Gelder. Allein das um das finanzielle Überleben ringende Athen könnte so rasch 80 Milliarden Euro lukrieren.

Seltsam. Im Syriza-Wahlkampf war diese Forderung noch ganz oben auf der Agenda genauso wie die Abschaffung eklatanter Steuerprivilegien der orthodoxen Staatskirche. Und jetzt: kein Thema mehr. Ob Alexis Tsipras bei all den Turbulenzen im Kreml vielleicht doch Schwindelgefühle befallen? Sein Schlingerkurs könnte noch schwer ins Auge gehen.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

DIE AUTORIN



Regina Strassegger (geboren 1955) studierte Geschichte in Graz, arbeitete danach als Entwicklungshelferin in Afrika. Ab 1989 Dokumentarfilmerin für den ORF. Sie berichtete über die politischen Umwälzungen im südlichen Afrika ebenso wie in Ost- und Südosteuropa und war auch als Wahlbeobachterin in Afrika und auf dem Balkan tätig. Ihre Filme wurden mehrfach ausgezeichnet. [ Privat ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.04.2015)

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