Ein Aufruf an den ÖAAB zu kreativem Ungehorsam

Der Arbeitnehmerflügel stand einst für frische Ideen. Aber heute?

Es war wohl kein Zufall, dass im April 1945 der ÖAAB wenige Tage vor der Volkspartei gegründet wurde. Denn es war der Arbeitnehmerflügel, der gesellschaftspolitischer Motor sein sollte. Zu einem Zeitpunkt, da der Kampf ums tägliche Brot den Alltag beherrschte, Österreich als nicht lebensfähig erachtet wurde, hatte man dennoch den Kopf frei für Zukunftsthemen. Das reichte von der Schaffung einer sogenannten Gemeinschaftsrente über die Förderung privaten Wohnungseigentums bis hin zur Einführung eines Familieneinkommens (Stichwort Familienlastenausgleich).

1972, als das Wirtschaftswunder in der Blüte stand, vertrat man zu Recht den Standpunkt, dass wirtschaftlicher Erfolg sich auch beim sozialen Fortschritt niederschlagen muss. Daher kam die Vermögensbildung für Arbeitnehmer ebenso auf die Tagesordnung wie der Kündigungsschutz älterer Arbeitnehmer, die Bildungsfreistellung für Arbeitnehmer, die Beschlussfassung eines Pendlerpauschales, die Erhöhung des Mindesturlaubs auf vier Wochen.

Wenngleich die Gesamtpartei ihr Primat über die Bünde gefestigt hat, wäre es im Interesse einer Profilschärfung auch heute noch gefragt, nicht nur brav auf Linie zu bleiben, sondern wenn nötig eingefahrene Wege zu verlassen, Unkonventionelles anzudenken, auf Kurskorrekturen zu drängen – gewissermaßen anlassbezogen eine Art innerparteiliche Opposition zu sein. Bei aller Parteifreundschaft.

Forsch und couragiert

Keine Frage, dass eine Koalitionsregierung ihre Handlungsfähigkeit unter Beweis stellen muss. Das wiederum hat zur Folge, dass vor lauter Suche nach einem gemeinsamen Nenner einiges an neuen Ideen auf der Strecke bleibt. Umso wichtiger wäre es, einen Flügel zu haben, der forsch und couragiert agiert und nicht auf allerlei Befindlichkeiten Rücksicht nehmen muss. Diese Strategie würde auch dem Projekt „Evolution“ gut tun. Es wird nicht ausreichen, neue Gedanken für eine Politik, die vorausblickt, aufs Papier zu bringen und durch einen Parteitag absegnen zu lassen. Die Nachhaltigkeit dieses Programms wird sich erst an dessen Umsetzung zeigen.

Der Partner im Bremserhaus

Das gilt übrigens erst recht für die aktuelle Regierungsagenda. Um Österreich wieder in eine Topposition zu hieven, bedarf es entschlossener Reformen und nicht ihrer Verschiebung auf einen späteren Zeitpunkt – in der Hoffnung, dass sich vielleicht von selbst eine Lösung ergeben wird. Gerade weil man weiß, dass der Koalitionspartner im Bremserhaus sitzt, wäre es wichtig, Druck zu machen.

Der ÖAAB stand einst für Themen wie den Kampf gegen die Verschwendung, für ein gerechtes Steuersystem und für Bürokratieabbau. Themen, die 2015 erst recht wieder aktuell sind.

Drehen wir noch einmal das Rad zurück. Als das System der Sozialversicherung geschaffen wurde, betrug der Abstand zwischen Pensionsantritt und Lebenserwartung sieben Jahre. Heute sind es 21 Jahre. Da ist dringend eine Nachjustierung fällig – nicht irgendwann, sondern jetzt, hier und heute. Die Sicherung des Pensionssystems gelingt nicht, indem man Reformen auf die lange Bank schiebt. Wer heute eine Verwaltungsreform beschließt, wird erst in fünf Jahren Erfolge sehen. Der Dschungel an Förderungen muss jetzt durchforstet werden, damit er nicht noch dichter zuwächst.

Zum 70. Geburtstag darf man daher dem ÖAAB wünschen, sich nicht bequem zurückzulehnen, sondern hin und wieder für kreativen Ungehorsam zu sorgen. Denn Beharren sichert nur kurzfristig Bestände – es ist die Ungeduld, die letztlich zum Fortschritt führt.

Mag. Herbert Vytiska (*1944) war 15 Jahre lang Sprecher des früheren ÖVP-Chefs Alois Mock. Heute ist er Politikberater in Wien.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.04.2015)

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