In dubio pro Renner

Karl Renner war keine Lichtgestalt. Aber im April 1945 war der alte Fuchs eben doch der richtige Mann auf dem richtigen Platz.

Karl Renner ist keine Lichtgestalt der österreichischen Zeitgeschichte. Er war nicht der einzige Antisemit in den Reihen der Sozialdemokratie, aber das freudige Ja zum Anschluss, das er 1938 hinausposaunte, lag vielen im Magen. Er war überhaupt ein altes Schlitzohr. Stimmt alles.

Bloß den berühmt-berüchtigten Brief an Stalin mit seiner Kaskade schwülstiger Schmeicheleien, den er im April 1945 geschrieben hat, kann man auch ganz anders als üblich lesen. Nämlich als ein des alten Fuchses würdiges psychologisches Kunststück. Der Verweis auf seine Bekanntschaft mit Leo Trotzki inmitten all des Honigs, den er dem Diktator ums Maul schmiert, wirkt wie ein schwerer Tabubruch. Dabei muss er gewusst haben, dass es in der Sowjetunion lebensgefährlich war, den Namen Trotzki in den Mund zu nehmen.

Ich bin davon überzeugt, dass er mittels vorgeblicher Ahnungslosigkeit einen Widerhaken in seinen Schmeichelbrief verpackte, eine Botschaft an Stalin, die etwa so lautete: Sie rechnen wohl mit meiner Willfährigkeit, aber ich bin keiner Ihrer Satrapen! Diese Lesart dürfte nicht weniger für sich haben als die Annahme einer Ungeschicklichkeit wie zuletzt im „Profil“ vom 3. April, die Renner als Tölpel erscheinen lässt, der er wirklich nicht war. In dubio pro reo, falls er es notwendig hat. Für die alternative Deutung seines Briefes spricht auch die Klarheit, mit der er am 29. April 1945 bei einem Besuch des schwer beschädigten Parlamentsgebäudes erklärte: „Wir nehmen die heilige Verpflichtung auf uns, sobald nur irgend möglich, das Volk zu freien demokratischen Wahlen aufzurufen, damit es seine definitive Regierung bestelle und uns die Bürde unseres Amtes wieder abnehme. Wir wollen dieser neuen Volksvertretung Rechenschaft ablegen und zurücktreten.“

Meister der Vernebelungskunst

Der gewiefte Taktiker war freilich auch ein Großmeister der blumigen Vernebelungskunst. Der Satz, wonach „die nationalsozialistische Reichsregierung Adolf Hitlers kraft dieser völligen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Annexion des Landes das macht- und willenlos gemachte Volk Österreichs in einen sinn- und aussichtslosen Eroberungskrieg geführt hat, den kein Österreicher jemals gewollt hat, jemals vorauszusehen oder gutzuheißen instand gesetzt war, zur Bekriegung von Völkern, gegen die kein wahrer Österreicher jemals Gefühle der Feindschaft oder des Hasses gehegt hat“ geht ja wohl auf ihn zurück. Damit wurde bereits in der Regierungserklärung vom 27. April der Grundstein der österreichischen Lebenslüge gelegt.

Auch in seiner Silvesteransprache zeigte er sich in Hochform, indem er kühn die NS-Herrschaft aus der österreichischen Geschichte strich: „Land, Staat und Volk Österreich waren untergegangen, so wie im Karst da und dort ein Fluss versinkt [...] Aber Ende April, Anfang Mai standen die Menschen auf, die man früher Österreicher genannt hatte, taten sich zusammen und begründeten in knapp sieben Monaten Staat und Nation neu [...] Und der Strom, der im Karst sich verloren zu haben schien, brach hervor, mächtig wie ein Bergbach, klar und rein wie Berggewässer, und Österreich war wieder da.“

In der gefährlichen Situation des April 1945 war der alte Fuchs eben doch der richtige Mann auf dem richtigen Platz. Auch wenn er keine Lichtgestalt war.

Hellmut Butterweck (*1927 in Wien) ist Journalist mit den Schwerpunkten Zeitgeschichte und Theaterkritik. Verfasser von Hörspielen und Theaterstücken.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.04.2015)

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