An den fitten Wesen soll die Menschheit genesen

Auch die ÖVP will künftig Prämien für gesunde Lebensführung vergeben.

ÖVP-Klubobmann Reinhold Lopatka will gesunde Lebensführung belohnen. Das Erreichen bestimmter Gesundheitsziele soll mit geringerem Selbstbehalt beim Arztbesuch belohnt werden. Wer die Ziele nicht erreicht, indem er raucht, säuft und hackelt, muss mehr brennen. Die Sozialversicherungsanstalt für Selbstständige (SVA) hat ein einschlägiges Projekt am Laufen. Wer eine Vorsorgeuntersuchung absolviert, „Gesundheitsziele“ vereinbart und sie nach einem Jahr erreicht hat, muss künftig nur mehr zehn statt 20 Prozent Selbstbehalt zahlen.

Niemand wird etwas dagegen einwenden, dass möglichst viele Menschen ihr Leben in möglichst guter Verfassung genießen. Doch die extrem simplifizierende Konstruktion des gesunden Lebens aus einigen wenigen Maßnahmen und weniger Tschicken, Saufen und mehr Sport erinnert an eine Haltung, die in unseligen Zeiten propagiert wurde: Die Machbarkeit eines gesunden Menschen geht einher mit dem gesunden Empfinden, was eine gesunde Lebensführung ist. Was aber ist mit Menschen, die unter genetischen, sozialen oder beruflichen Nachteilen und Einschränkungen leiden?

Lopatka ist ein fitter (Marathonläufer!), karrierebewusster Politiker, der sich vielleicht über die Motive seiner selektionistischen Vorschläge noch nicht ausreichend Gedanken gemacht hat. Die Argumentation erinnert an Einwürfe des Volleyball-Präsidenten Peter Kleinmann, der von schulischen Bewegungseinheiten die Zukunft „unserer Kinder“ abhängig macht. Und Massenevents wie der Vienna City Marathon verleihen derartigen Vorstößen Pseudoplausibilität.

Wettkampf ist überall

Das Heer der über Asphalt laufenden Individualisten in ihren Funktionalklamotten gilt als Sinnbild für eine gesündere Gesellschaft. Die Teilnehmer folgen einem Bild des Menschen, das immerwährende Fitness, lebenslanges Lernen, nie ruhendes Zur-Verfügung-Stehen, ständiges Funktionieren enthält. Es macht Spaß und ist doch bitterer Ernst. Die Performance entscheidet, in Sport, Beruf und Liebe, das „Abrufen der Leistung“ im Wettkampffall. Und Wettkampf ist überall, im Büro, im Bett und in der Bar. Erst recht in der Arztpraxis.

Flächendeckende Rankings

Lopatka vertritt bloß, wie es dem einstigen Sportstaatssekretär und Klubobmann der ÖVP geziemt, die Interessen seiner Wähler: strebsame, die Selbstdisziplinierung als Selbstverständlichkeit erachtende Leistungswillige. Sie berechnen Leistung und Freizeit, Ware und Lebenswege, Bildung und Physis in Geldwertmengen.

Mit der Vorgabe von Gesundheitszielen wird das flächendeckende Ranking des Lebens fortgesetzt, das vom Sport ausgehend Universitäten über Schulen (PISA!) bis zu Politikern (Umfragen!) alle Lebensbereiche in einfache, allaussagende Zahlen fasst.

Mit dem „Selbstbehalt für Gesundheit“ wird auch die Ausspähung fortgesetzt, freilich zu einem guten Zweck. Sie ist also moralisch gerechtfertigt. Zwar soll sich mit der Hilfe des Monitorings – die Gesundheitsziel-Erreichungsbestätigungen jährlich abzugeben – die Kostensituation der SVA entspannen. Aber der Lohn der Allgemeinheit ist fair: höhere Lebensqualität, Intensivierung des sinnlichen Erlebens (besserer Sex, niedrigere Marathonzeiten), längeres Leben.

Mit dieser Lebensführungsprämie werden Menschen in Gruppen geteilt: Divide et impera sanus – teile und herrsche gesund. Die Gesellschaft teilt sich in die Anständigen, die belohnt werden, und die Problematischen, die unnötige Kosten verursachen. An den Fitten soll die Menschheit genesen, oder zumindest die Krankenversicherung und die ÖVP. Aber irgendwo muss man ja anfangen.

Mag. Johann Skocek (* 1953) ist
freier Journalist und Buchautor.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.04.2015)

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