Europa taumelt, hat aber einen idealen Sündenbock

Die politische Elite Europas versagt als weltpolitischer Friedensfaktor kläglich. Das Ringen um die Ukraine zeigt es deutlich.

Die Geostrategen sind wieder da. Sie waren nie weg, aber die politische Klasse war zufrieden, von ihnen nichts wissen zu müssen. Plötzlich, aus heiterem Himmel der Geschäfte und der Spaßgesellschaft heraus lassen uns die Geostrategen aus Ost und West fühlen, wie die reale Welt so läuft – die Ukraine als aktueller Brennpunkt.

Europas politische Klasse ist bestürzt: Wirtschaftskrieg, Kalter Krieg und womöglich sogar ein großer Heißer Krieg, wo wir in Europa doch so friedlich unsere Werte hochhalten und unseren Geschäften nachgehen. Da muss eine Grenze gezogen, da muss sanktioniert werden. Und zunächst soll die Regierungschefin eines etwas gewichtigeren Kleinstaats, Deutschlands nämlich, für ganz Europa die Dinge einrenken.

Eine zugleich komische wie tragische Personalisierung – und eine Illusion. Denn Frau Merkel steht mit leeren Händen da. Zusammen mit ihren Machtkollegen hat sie all die Jahre dazu beigetragen, dass aus dem historischen Zwischenschritt Europäische Union keine staatliche Handlungsfähigkeit im Maßstab des Jahrhunderts entstehen konnte. Bloß ein Wirtschaftsraum ohne einheitlich handlungsfähige Institutionen ist es geworden, sozialpolitisch unzuständig und unfähig, kein kraftvoller Zähmer der Finanzindustrie und der Geheimdienste, kein weltpolitischer Friedensfaktor.

Spielmaterial für Mächtige

Ein grotesker Zustand, erklärbar nur aus der Unterwürfigkeit und einer ideologischen Verblendung der politischen Klasse sowie einem parallelen teilweisen Versagen der zivilgesellschaftlichen Opposition in ihrer Zersplitterung und Staatsblindheit. Denn auch ein im Abstieg befindliches Europa hätte noch kulturelles und produktives Potenzial, ist eine latente Macht. Aber mangels demokratischer Institutionen auf Augenhöhe mit den Machtzentren in aller Welt (und zu Hause) bleibt dieses Potenzial nur Spielmaterial für die weltweit Mächtigen.

Die globalisierte Finanzindustrie und andere transnationale Machtkomplexe sind von Kleinstaaten aus nicht zu zähmen. Und sobald Interessenskonflikte zum geostrategischen Konflikt mutieren, ist Europa ein Protektorat der USA. Zwar eine bedeutende Provinz der globalen Finanz-, Konsum- und Sicherheitsindustrie, jedoch politisch ein Niemand im Schwebezustand zwischen einer sich erst in Umrissen abzeichnenden multipolaren Mächtekonstellation voll Ungewissheiten und dem alten Protektorat, das in jeder Hinsicht unzuverlässig wird.

Die realen Interessen und Machtverhältnisse des Westens bleiben verdeckt und verschwiegen hinter einer Rhetorik der Menschenrechte. Gewiss, die Erfindung der Menschenrechte ist die wohl bedeutendste Errungenschaft der Neuzeit. Von Westlern aus dem eigenen Erbe heraus formuliert und bruchstückhaft praktiziert, sind sie längst nicht mehr nur westliche, sondern genuin menschheitliche Rechte und Ansprüche. Doch der real existierende Westen hat in seinen Taten laufend sich selbst desavouiert – mit dem Irakkrieg als skandalösem Höhepunkt.

Das rächt sich akut in dem erst beginnenden Streit um die Ukraine, der aktuelle Testfall für die Abwesenheit Europas. Den Akteuren war und ist die geostrategische Komponente offensichtlich nicht präsent. Gewiss, die Nachfolgestaaten am Rand Russlands waren als Völkerrechtssubjekte frei, den Anschluss an den Westen zu suchen, per Nato, da es sie eben gab, und per EU, die selbst keine Sicherheitspolitik hatte und sie auch nicht wirklich anstrebt. Anders der Protektor und seine europäischen Propagandisten. Für sie, dressiert auf Geostrategie, war und ist Sicherheitspolitik identisch mit dem Anspruch, das zur Regionalmacht absinkende Russland fügsam zu machen für die Strategien der westlichen Vormacht.

Ein gefügiges Russland

Schluss dann mit Blockaden und Störmanövern im UN-Sicherheitsrat! Russland als williger Partner für westliche Manöver etwa im Nahen Osten – und in den absehbaren Konflikten um die globale Machtteilung mit den aufkommenden großen Rivalen! Allein darum geht es in der begonnenen Eskalation, nicht um Menschenrechte oder die Interessen der Ukraine und anderer Völker am Rand Russlands. In Russland selbst freilich ist die Entdemokratisierung und die Auslieferung des Landes an neue Feudalherrn und eine ökonomische Fehlsteuerung hausgemacht.

Jetzt kalkuliert der Starke die Schwäche Russlands. Kann das neue Zarenreich, immerhin Nuklearmacht und ständiges Mitglied des Weltsicherheitsrats, sich als gleichrangige Weltmacht behaupten, mit der Ukraine und anderen Ländern am Rand als strategischem Vorfeld, abgesichert gegen die Ausdehnung von Nato und einer Europäischen Union als Teil dieses Protektorats?

Putins schlechtere Karten

Niemand weiß, ob die Wirtschaft Russlands, die außer fossilen Brennstoffen und Waffen wenig vorzuweisen hat, noch länger als Unterfutter neu geweckter Weltmachtallüren taugt. Niemand weiß, ob die Kosten einer Eskalation, eventuell sogar mit Toten, die nationalistische Großmachthysterie einstürzen lassen oder sie umgekehrt ins Extrem treiben; oder ob Putin durch einen Putsch aus seiner Umgebung gestürzt wird.

Niemand weiß, ob das hohe Maß an Rationalität, das Putins Handeln bisher ausgezeichnet hat, auch in einer kriegerischen Eskalation die Führung Russlands leiten wird. Gleich, ob der Westen mit Geld oder Waffen auffährt, man kann vermuten, dass Putin auf längere Frist schlechte Karten hat. Doch nichts ist weniger berechenbar und daher gefährlicher als ein Verlierer mit Nuklearwaffen.

Europa präsentiert sich in der Praxis als Nicht-Union: Einige der 28 EU-Mitglieder liefern ein wenig Militärhilfe, Berater, Ausbildner, allerlei Waffen; andere sehen voraus, dass man kräftig aufrüsten muss; wieder andere haben erkannt, dass die militärische Eskalation ungewollt in Krieg münden könnte. Für sie die einzige Alternative: Europa muss die Ukraine finanzieren – also noch ein Fass ohne Boden.

Europa taumelt hinein in eine vielleicht unbeherrschbare Eskalation der Gewalt und Feindschaft. Bleibt der Große Krieg aus, wird das nicht das Verdienst Europas gewesen sein. Ohne den Entschluss zur Staatlichkeit, ohne Reue und Einfühlen in den Feind, ohne kraftvolles Angebot zur Zusammenarbeit an Russland und die Ukraine gleichermaßen – kein Friede.

Was der Sündenbock erspart

Aber wir haben doch den Schuldigen! Ein gewöhnlicher Sündenbock ist schuldlos, Putin aber ist zu Recht als Aggressor und Lügner entlarvt; der ideale Sündenbock. Ein Sündenbock erspart die Besinnung auf den eigenen Anteil am Entstehen der Bedrohung und erspart die Umkehr, den Aufbruch zu einer Alternative heraus aus dem Protektorat, heraus aus der selbstverschuldeten, verantwortungslosen Kleinstaaterei und hin zum Vorrang der Politik gegenüber Bereicherung und Aufrüstung.

Europa taumelt, aber mit Sündenbock taumelt es sich leichter.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

DER AUTOR



Erich Kitzmüller,
83, ist Honorarprofessor für Wirtschaftsphilosophie an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Er forscht zur Dynamik der Gesellschaften, speziell zur Eindämmung/Kanalisierung der Gewalt in Wirtschaft und Politik und zur Staatswerdung Europas. Publikationen u.a.: „Der Zauberstab des Geldes und die Macht der internationalen Finanzmärkte“(2005). [ Privat ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.05.2015)

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