Zwei Häuser, aber welche Geschichte?

Die große Gefahr für die historische Vermittlung in den geplanten Geschichtshäusern an Traisen und Donau sind nicht parteipolitisch eingefärbte Geschichtsbilder, sondern ist die Konzentration auf die Politikgeschichte.

Nach Jahrzehnten der Debatte um ein Haus der Geschichte schenken uns die Regierenden nun sogar zwei derartige Behausungen: das Haus der Geschichte Niederösterreich (HGNÖ) in St. Pölten 2017 und das Haus der Geschichte Österreichs (HGÖ) in Wien 2018.

Man kann aus guten Gründen die Stiftung zentraler Gedächtnisorte im Auftrag der Herrschenden ablehnen. Dennoch spricht für mich als in Forschung und Lehre engagierter Historiker ein guter Grund für solche Gedächtnisorte: die Chance, Geschichte fach- und sachgerecht an eine bunt zusammengesetzte Zivilgesellschaft zu vermitteln.

Schwarze und rote Projekte?

Seit der Ankündigung der beiden Geschichtshäuser, zunächst durch den niederösterreichischen Landeshauptmann Erwin Pröll, dann durch Bundesminister Josef Ostermayer, kreist die öffentliche Debatte im Feuilleton vor allem um den zeitlichen und räumlichen Zuschnitt der Geschichte: Soll sie 1848 beginnen – oder doch erst 1918 oder bereits 1789? Soll sie sich auf das Landes- oder Staatsterritorium konzentrieren – oder doch (zentral-)europäische und globale Bezüge knüpfen? Eine entscheidende Frage blieb bisher freilich nicht nur unbeantwortet, sondern wurde gar nicht ernsthaft gestellt: Welche Geschichte ist Gegenstand des Hauses der Geschichte?

Bei all dem mag sich gelernten Österreicherinnen und Österreichern der Eindruck einer vom großkoalitionären Proporzdenken getriebenen Parallelaktion aufdrängen: das niederösterreichische Haus unter Vorsitz Stefan Karners als schwarzes, das Haus in Wien unter Federführung Oliver Rathkolbs als rotes Auftragsprojekt.

Sinngemäß warnten manche Kommentare – etwa in der „Presse“– vor der Gefahr parteipolitisch eingefärbter Geschichtsbilder. Die geschichtspolitische Hauptstreitpunkte sind nach wie vor die Ausschaltung der Parteiendemokratie und die Errichtung der Ständestaatsdiktatur 1933/34. Gerade hier böte sich an, Farbe zu bekennen: der aus dem niederösterreichischen Bauernbund stammende Bundeskanzler Engelbert Dollfuß als „heldenhaftes Opfer“ des Nationalsozialismus in St. Pölten, derselbe als „faschistischer Arbeitermörder“ im Wiener Haus?

Die politisch und wissenschaftlich Verantwortlichen an Traisen und Donau suchen solche Bedenken freilich zu zerstreuen: Pröll und Ostermayer betonen die friedliche Koexistenz der beiden Häuser, Karner und Rathkolb pflegen laut „Kurier“ dem Vernehmen nach „regen Gedankenaustausch“.

Da in St.Pölten und Wien durchwegs seriöse Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler am Werk sind, sehe ich kaum die Gefahr einer plakativen Schwarz-Rot-Malerei. Wenn entlang der parteipolitischen Demarkationslinie Gefahr droht, dann viel eher in Gestalt einer glatt gebürsteten, „politisch korrekten“ Koalitionsgeschichtsschreibung ohne Ecken und Kanten.

Es geht um Lebenswelten

Doch die eigentliche Gefahr für die Vermittlungschance der beiden Geschichtshäuser lauert jenseits des politischen Farbenspiels. Das laute Geplänkel um geschichtspolitische (Über-)Parteilichkeit übertönt eine offenbar stille Übereinkunft zum HGNÖ und HGÖ: Geschichte meint da wie dort vor allem Politikgeschichte. Karner möchte das frühere Erzherzogtum und spätere Bundesland Niederösterreich als Kernland des alten Österreich ins Zentrum des HGNÖ rücken; Rathkolb erhebt die Auseinandersetzung mit dem Heldenplatz als „Spiegelbild der politischen Kultur des 19. und 20.Jahrhunderts“ zum Alleinstellungsmerkmal des HGÖ. Beide Ansagen scheinen im Kern auf eine politische Landes- und Nationalgeschichte zu zielen. Damit aber rücken umwelt-, wirtschafts-, sozial- und kulturhistorische Aspekte zwangsläufig an den Rand.

Politikgeschichte ist gewiss notwendig, aber nicht hinreichend für ein Haus der Geschichte. Denn „die Geschichte“ umfasst mehr – vor allem, wenn es um die Lebenswelten der Menschen insgesamt geht. Das zeigt beispielsweise Eric Hobsbawm, der renommierte britische Historiker mit österreichischen Wurzeln, in seiner Weltgeschichte des „kurzen 20.Jahrhunderts“.

Jenseits einer auf herausragende Ereignisse fixierten Politikgeschichte lenkt er unseren Blick auf tiefer liegende Schichten der Gesellschaftsgeschichte im „Zeitalter der Extreme“. Was war für Hobsbawm die einschneidendste Entwicklung ab der Jahrhundertmitte? Nicht die Entkolonialisierung, nicht der Kalte Krieg, nicht die Europäische Integration, sondern der Untergang des Bauerntums.

Der Weg in die Moderne

Der Übergang von einer Agrar- zu einer Industrie- und schließlich Dienstleistungsgesellschaft stellte auch für (Nieder-)Österreich im 19. und 20.Jahrhundert eine – wenn nicht die einschneidende Entwicklung auf dem Weg in die Moderne dar. Kaum ein Bereich menschlicher Lebenswelten blieb davon unberührt: In umwelthistorischer Hinsicht der Übergang von Sonnenenergie nutzenden zu Fossilenergie verbrauchenden Lebensweisen, in wirtschaftshistorischer Hinsicht der Übergang von land- und arbeits- zu kapital- und wissensbasierter Wertschöpfung, in sozialhistorischer Hinsicht der Übergang von regionaler Vergemeinschaftung zu globaler Vergesellschaftung, in kulturhistorischer Hinsicht der Übergang von arbeits- und produktions- zu freizeit- und konsumorientierten Identitäten.

Auch die (nieder-)österreichische Politikgeschichte erschließt sich erst im Zusammengang mit dem „großen Übergang“. So erfolgte beispielsweise der Regimewechsel 1933/34 in einer Übergangsgesellschaft, die zwar schon industrialisiert, aber noch nicht entagrarisiert war.

Gesellschaftliche Blockbildung

Selbstständige und ihre mithelfenden Angehörigen in Land- und Forstwirtschaft sowie die Arbeiterschaft in Industrie und Gewerbe bildeten die größten, etwa gleich starken Gesellschaftsklassen. Diese Blockbildung schärfte die Identitätsentwürfe von Bauernstand und Arbeiterklasse, bot Ansatzpunkte für die christlichsoziale und sozialdemokratische Mobilisierung und kanalisierte im Zuge der Weltwirtschaftskrise den politischen Konfrontationskurs von schwarzer Provinz und roter Metropole.

Freilich folgten die Gewaltereignisse von 1933/34 nicht zwingend aus der Krise dieser Parallelgesellschaft. Gleichwohl können wir das Denken und Handeln von Schlüsselakteuren wie Dollfuß erst im gesellschaftlichen Zusammenhang, etwa im Hinblick auf dessen bäuerlich-patriarchalisches Herkunftsmilieu im ländlichen Niederösterreich, verstehen und erklären.

Spätestens 2017 und 2018 zeigt sich, ob die Häuser an Traisen und Donau einer politischen Landes- und Nationalgeschichte huldigen oder sich gegenüber einer facettenreichen Gesellschaftsgeschichte öffnen, die den bunten Lebenswelten der Menschen – auch ihres Publikums – gerecht wird.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

DER AUTOR



Ernst Langthaler
(*1965) ist Leiter des Instituts für Geschichte des ländlichen Raums in St. Pölten und Privatdozent für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Wien. Er forscht vor allem zur Agrar- und Ernährungsgeschichte. Ungeachtet seiner Mitgliedschaft im wissenschaftlichen Beirat des „Hauses der Geschichte Niederösterreich“ drückt dieser Kommentar ausschließlich seine persönliche Meinung aus. [ André Luif]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.05.2015)

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