Hoffen auf die bessere Welt: Das Ende eines Konsenses

1945 rollte auch eine Welle des Idealismus durch die Kriegsruinen. 70 Jahre später ist davon nicht mehr viel übrig geblieben.

Als der Zweite Weltkrieg am 8. Mai 1945 in Europa offiziell zu Ende ging, lagen weite Teile der Welt in Trümmern. Aber auch wenn die Fähigkeit des Menschen zur Zerstörung kaum Grenzen kennt, so ist seine Begabung für einen Neuanfang ebenso bemerkenswert. Vielleicht ist es der Menschheit aus diesem Grund bisher gelungen, zu überleben.

Zweifellos waren Millionen Menschen bei Kriegsende zu hungrig und zu erschöpft, um jenseits des nackten Überlebens viel zu unternehmen. Dennoch rollte gleichzeitig auch eine Welle des Idealismus durch die Ruinen, ein kollektives Gefühl der Entschlossenheit, eine gerechtere, friedlichere und sicherere Welt zu errichten.

Aus diesem Grund wurde auch der große Held des Krieges, Winston Churchill, im Sommer 1945, noch vor der Kapitulation Japans, als Premierminister abgewählt. Männer und Frauen hatten nicht ihr Leben riskiert, nur um danach wieder in die alte Zeit der Klassenprivilegien und der sozialen Benachteiligung zurückzukehren. Sie wollten bessere Wohnungen, Bildung und kostenlose Gesundheitsversorgung für alle.

Schwenk zum Wohlfahrtsstaat

Ähnliche Forderungen wurden in ganz Europa laut, wo der antinazistische oder antifaschistische Widerstand oftmals von Linken oder auch Kommunisten angeführt wurde und die Konservativen aus der Vorkriegszeit häufig durch ihre Kollaboration mit faschistischen Regimen belastet waren.

In Ländern wie Frankreich, Italien und Griechenland war von Revolution die Rede. Diese fand allerdings nicht statt, weil sie weder von den westlichen Alliierten noch von der Sowjetunion unterstützt wurde. Stalin gab sich zufrieden, in Osteuropa ein Reich entstehen zu lassen.

Aber sogar Charles de Gaulle, ein Anführer des Widerstands der Rechten, musste in seiner ersten Nachkriegsregierung Kommunisten akzeptieren, und er stimmte zu, Industriebetriebe und Banken zu verstaatlichen. Der Schwenk nach links, in Richtung des sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaats, vollzog sich in ganz Westeuropa. Er war Teil des Konsenses des Jahres 1945.

Eine andere Art Revolution ereignete sich in den ehemaligen europäischen Kolonien in Asien, wo die einheimischen Bevölkerungen überhaupt keine Lust hatten, weiterhin von westlichen Mächten regiert zu werden, denen von Japan eine derart schmachvolle Niederlage zugefügt worden war. Auch Vietnamesen, Indonesier, Filipinos, Burmesen, Inder und Malaysier wollten ihre Freiheit.

Diese Bestrebungen wurden oftmals in den 1945 gegründeten Vereinten Nationen zum Ausdruck gebracht. Die UNO war ebenso wie der Traum von der europäischen Einheit Teil des Konsenses des Jahres 1945. Kurzzeitig waren zahlreiche prominente Personen – wie beispielsweise Albert Einstein – der Meinung, dass nur eine Weltregierung in der Lage wäre, den globalen Frieden sicherzustellen.

Dieser Traum zerplatzte rasch, als der Kalte Krieg die Welt in zwei feindliche Blöcke aufteilte. Aber in mancherlei Hinsicht wurde der Konsens des Jahres 1945 – im Westen – durch die Politik des Kalten Krieges sogar gestärkt. Der noch immer in die Lorbeeren des Antifaschismus gehüllte Kommunismus verfügte nicht nur in der sogenannten Dritten Welt, sondern auch in Westeuropa über weitreichende intellektuelle und emotionale Anziehungskraft. Die Sozialdemokratie mit ihrem Versprechen größerer Gleichheit und Chancen für alle diente als ideologisches Gegenmittel. Tatsächlich waren die meisten Sozialdemokraten erbitterte Gegner des Kommunismus.

1989: Ende der Versklavung

Heute, 70 Jahre später, haben sich große Teile des Konsenses des Jahres 1945 überlebt. Wenigen Menschen gelingt es, große Begeisterung für die UNO aufzubringen; der europäische Traum befindet sich in der Krise; und der sozialdemokratische Wohlfahrtsstaat der Nachkriegszeit wird mit jedem Tag stärker ausgehöhlt.

Dieser Verfall begann bereits in den 1980er-Jahren unter Ronald Reagan und Margaret Thatcher. Die Neoliberalen nahmen die Kosten der Sozialprogramme und die Partikularinteressen der Gewerkschaften ins Visier. Die Bürger, so meinte man, müssten stärker selbstverantwortlich agieren. Staatliche Sozialprogramme würden sie träge und abhängig machen. Einer berühmten Formulierung Thatchers zufolge gab es so etwas wie eine „Gesellschaft“ nicht, sondern nur Familien und Individuen, die für sich selbst sorgen sollten.

Doch dem Konsens des Jahres 1945 wurde ein noch viel stärkerer Schlag versetzt, als wir den Zusammenbruch des Sowjetimperiums – der anderen großen Tyrannei des 20. Jahrhunderts – bejubelten. 1989 hatte es den Anschein, als ob das dunkle Vermächtnis des Zweiten Weltkriegs, nämlich die Versklavung Osteuropas, ein Ende gefunden hätte. Und in vielerlei Hinsicht war dem auch so.

Die Krise der Linken

Doch mit dem sowjetischen Modell brach auch noch anderes zusammen. Die Sozialdemokratie verlor ihre Daseinsberechtigung als Gegenmittel zum Kommunismus. Alle Arten linker Ideologie – ja überhaupt alles, was den Beigeschmack des kollektiven Idealismus aufwies – wurden als fehlgeleiteter Utopismus betrachtet, der nur in den Gulag führen könne.

Der Neoliberalismus füllte dieses Vakuum. Er brachte einigen Menschen enormen Reichtum, allerdings auf Kosten des Gleichheitsideals, das nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden war. Die außerordentliche Resonanz des Buchs „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ von Thomas Piketty zeigt, wie intensiv die Folgen des Zusammenbruchs der Linken empfunden wurden.

In den letzten Jahren entwickelten sich noch andere Ideologien, um dem menschlichen Bedürfnis nach kollektiven Idealen gerecht zu werden. Der Aufstieg des rechten Populismus ist Ausdruck einer wiederbelebten Sehnsucht nach rein nationalen Gemeinschaften, aus denen Einwanderer und Minderheiten ferngehalten werden. Die amerikanischen Neokonservativen wiederum haben den Internationalismus der alten Linken in perverser Weise umgewandelt, indem sie versuchen, mit Militärgewalt eine demokratische Weltordnung zu etablieren.

Nostalgie ist keine Lösung

Die Antwort auf die alarmierenden Entwicklungen kann nicht Nostalgie sein. Wir können nicht einfach in die Vergangenheit zurückkehren. Dafür hat sich zu viel verändert. Aber neue Bestrebungen in Richtung sozialer und wirtschaftlicher Gleichheit sowie internationaler Solidarität sind dringend erforderlich. Dabei kann es sich nicht um den gleichen Konsens wie im Jahr 1945 handeln, aber wir wären zum 70. Jahrestag gut beraten, uns zu erinnern, warum dieser Konsens überhaupt erzielt wurde.

Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier

Copyright: Project Syndicate, 2015.

Zum Autor


E-Mails an:debatte@diepresse.com

Ian Buruma (*1951 in Den Haag) studierte chinesische Literatur in Leiden und japanischen Film in Tokio. 2003 wurde er Professor für Demokratie und Menschenrechte am Bard College in New York; 2008 wurde er mit dem Erasmus-Preis ausgezeichnet. Zahlreiche Publikationen. Sein neues Buch „'45: Die Welt am Wendepunkt“ ist im Frühjahr auf Deutsch beim Hanser Verlag erschienen. [Internet]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.05.2015)

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