Europäische Schlafwandler in den Tiefen des Balkans

Die Hintergründe der blutigen Schießerei in Mazedonien liegen weiter im Dunkeln. Die EU-Reaktion fiel träge aus.

Im mazedonischen Shoot-out mit 22 Toten, 37 Verletzten und War-of-Terror-Getöse weicht inzwischen das Mysteriöse dem Maliziösen. Und beide M-Faktoren sind alarmierend, passen zu dem fiebrigen Balkan-Brennpunkt samt seinen schlafwandlerischen Auguren in den europäischen Hauptquartieren.

Aber der Reihe nach: Samstag, 9. Mai 2015. Am Tag der ominösen Siegesfeiern in Moskau erreicht mich ein erratischer Anruf aus dem albanischsprachigen Teil Mazedoniens. Der Mann, den ich seit dem Balkan-Drama gut kenne und dessen Name sicherheitshalber nicht genannt wird, sagt hektisch auf Englisch: „Helikopter feuern auf Wohnblöcke unserer Leute, Sondereinheiten der Polizei riegeln in Kumanovo unseren Stadtteil Divo Naselje ab. Die Menschen fliehen in Panik. Es ist wie im Krieg.“

Agenturmeldungen bestätigen schwere Feuergefechte zwischen Regierungstruppen des EU-Beitrittskandidaten und einem nicht näher benannten islamistischen Kommando. Sie verweisen auf frühere, aber kleinere Scharmützel in Bosnien und Serbien.

Mein Reflex: ein Shoot-out mit einem neu formierten IS-Mix. Die islamistischen Terrorzellen agieren nach den jüngsten Ereignissen in Paris, Brüssel, Bremen, Antwerpen, Kopenhagen nun also auch offen auf dem Balkan.

Verbitterung über die EU

Nur: Kumanovo, die ethnisch stark durchmischte 100.000-Einwohner-Stadt, deutet eher auf einen slawo-albanischen Schlagabtausch hin, in dem die aufgelöste, einst vom CIA gesponserte kosovarisch-albanische Befreiungsarmee UÇK mit ihren berüchtigten kriminellen Abkömmlingen ein Faktor wäre. Oder operiert da etwa eine neu formierte UÇK-IS-Allianz? Eher unwahrscheinlich.

Meinen muslimischen Bekannten irritieren derlei Überlegungen. Er klagt über meinen, wie er meint, islamophoben Ton, ist verbittert über die EU und deren Erweiterungskommissar Johannes Hahn: „Der lässt Premier Gruevski, diesem Orbán-Zwilling in Skopje, alles durchgehen. Und jetzt diese brutale Aktion, die unsere Leute ohne Vorwarnung trifft. Hilf uns! Komm wenigstens jetzt wieder! Ruf deinen mächtigen Landsmann in Brüssel an.“

Realitätsverlust, Wut, Enttäuschung pur. Diese Szenen einer vernachlässigten, ja vergessenen Freundschaft scheinen symptomatisch für die Gefühlslage derer, die sich um Hoffnungen auf ein „Dazugehören zu einer besseren EU-Welt“ betrogen fühlen.

Perspektivenwechsel. Die mazedonische Innenministerin spricht in Skopje „von der Bekämpfung einer der gefährlichsten Terrorgruppen mit ausländischer Beteiligung auf dem Balkan“. Der Geheimdienstchef lässt aus allen Rohren „auf die aus einem Nachbarstaat kommenden Uniformierten, deren Ziel es ist, staatliche Institutionen anzugreifen“, feuern. Aber woher stammen diese Informationen? Ungewiss. Oder sollen hier Fakten geschaffen werden? Mysteriös.

Unterdessen bricht der Staatschef Mazedoniens „in Anbetracht der akuten Terrorbedrohung seines Landes“ die feierliche Moskau-Visite bei Patron Wladimir Putin medienwirksam ab. Der russische Präsident versteht nur zu gut, bietet – dem im politischen Geist verwandten Premier zugetan – dem bedrängten Balkanstaat Beistand an. Bruderhilfe also für einen frustrierten EU-Beitrittskandidaten, der vom griechischen, im nationalistischen Namensstreit verharrenden Nachbarn in Brüssel blockiert wird. Da kommt Freude auf.

Muttertag 2015. In Kumanovo wird heftig gekämpft, werden tote Polizisten und Dutzende Verletzte geborgen. Bilder von albanisch-kosovarischen UÇK-Uniformen zirkulieren. Der Islamische Staat ist aus dem Spiel. Also doch ein Aufflammen der blutigen Tage von 2001, an denen der slawo-albanische Konflikt Mazedonien an den Rand eines Bürgerkrieges brachte?

Anzapfen von Geldquellen

Damals vermittelte mir mein Bekannter wertvolle Kontakte, auch riskante. Einer führte zu UÇK-Kommandant Ostreni, einem Ex-General der jugoslawischen Volksarmee. Es war eine machiavellistische Lehrstunde:

„Die Mazedonier müssen verstehen, dass unsere Befreiungsaktionen helfen, diesen fragilen Staat zu erhalten. Erst jetzt fließen reichlich internationale, friedensstiftende Gelder der UN, EU, OSZE und anderer Akteure in unseren Raum. Das dient uns allen. Aber eines ist klar: Mit der mazedonischen Apartheid gegen die Albaner und der orthodoxen Diskriminierung der Muslime muss Schluss sein. An einem uns von der serbischen Propaganda unterschobenen Großalbanien aber haben wir kein Interesse.“ Kann es sein, dass Essenzen von 2001 – „Macho-Ballern aktiviert die Geldquellen der internationalen Institutions-Armada“ sowie „Schluss mit der Diskriminierung albanischsprachiger Mazedonier“ – in diesem mazedonischen Mysterium 2015 nach wie vor aktuell sind?

Eine Geheimdienstaktion?

Die damals in Ohrid geschlossenen Friedensvereinbarungen samt EU- und Nato-Perspektive blieben zwar größtenteils Makulatur, aber ein wesentlicher Punkt wurde umgesetzt: Die politische Partizipation der albanischen Minderheit glückte. Der damalige Untergrundchef der UÇK, Ali Achmeti, ist heute Koalitionspartner des umstrittenen Nikola Gruevski. Würde ein schwer bewaffnetes UÇK-Kommando gegen den eigenen Verbündeten in der Regierung vorgehen? Wohl kaum – aber wer weiß?

Zurück zu Machiavelli, zu Intrige und Trickserei. Mein Bekannter ist von einer Geheimdienstaktion überzeugt. Solche sind in Zeiten „asymmetrischer Strategien“ ja auch en vogue – von Kairo über die Krim und zum Donbass.

Nach und nach kommen die Erklärungen aus Brüssel. Die erste findet sich bezeichnenderweise auf der Homepage des Nato-Generalsekretärs. Später drückt EU-Nachbarschaftskommissar Hahn „sein tiefes Bedauern aus“ und fordert: „Jede weitere Eskalation muss im Stabilitätsinteresse der Region und des Landes vermieden werden.“

Ja, eh. Nur bisher ließ Hahn die Dinge laufen: die skandalösen Machenschaften des nationalkonservativen Premiers, dessen Korruptions-, Abhör-, Wahlfälschungs- und Verhaftungspraktiken; die daraus resultierenden wütenden Massenproteste. Warum blieb bei all dem der EU-Anwärterstatus unangetastet, Gruevski ohne Verwarnung?

Köpferollen in Skopje

90 Stunden nach dem Shoot-out das Köpferollen in Skopje. Die Innenministerin, der Geheimdienstchef, seltsamerweise auch der Transportminister müssen gehen. Der US-Botschafter hatte harsch Rechenschaft gefordert. Und ein mazedonischer Ex-General sprach aus, was viele vermuteten: „Die Bewaffneten waren keine Terroristen, sondern bezahlte Söldner.“

Auf albanischsprachigen Websites ist von zwei Millionen Euro Blutgeld die Rede. Bestätigt ist nichts, offizielle Untersuchung gibt es auch noch keine. Herr Gruevski regiert weiter – noch.

Und ich enttäusche meinen Anrufer: Sorry, kein baldiges Wiedersehen in Mazedonien. Ungerechte Welt, ich weiß.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

DIE AUTORIN



Regina Strassegger (geboren 1955) studierte Geschichte in Graz, arbeitete danach als Entwicklungshelferin in Afrika. Ab 1989 Dokumentarfilmerin für den ORF. Sie berichtete über die politischen Umwälzungen im südlichen Afrika ebenso wie in Ost- und Südosteuropa und war auch als Wahlbeobachterin in Afrika und auf dem Balkan tätig. Ihre Filme wurden mehrfach ausgezeichnet. [ Privat ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.05.2015)

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